Tischgespräch im November 2023

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

Tischgespräch. Kolumne von Eva Mirasol

Mein Handy klingelt.

„Entschuldigung“, sage ich. „Das ist meine Mutter, da muss ich kurz ran.“

„Klar“, sagt mein Nachbar. „Sag schöne Grüße.“

Ich nicke und gehe kurz nach draußen.

„Alles okay?“, fragt er mich, als ich wieder reinkomme.

„Ja“, seufze ich. „Sie wollte ihren Blutdruck mit mir besprechen.“

„Und?“

„Der ist zu hoch, aber sie glaubt mir nicht. Sie tut, als hätte ich nicht nur nicht Medizin studiert, sondern wäre zudem Chirurgin geworden und wüsste gar nicht, was ein Blutdruck ist. Dabei bin ich Internistin und weiß lediglich nicht, wo der Blinddarm liegt.“

Mein Nachbar lacht. „Aber darüber reden will sie trotzdem?“

Ich nicke. „Dauernd. Und sie ist nicht allein. Auch mein Bruder ruft permanent an und fragt, ob er bald sterben muss – sein Knie knacke des Öfteren, wenn er jogge. Er wiederum denkt, ich bin Orthopädin, und ich lasse ihn in dem Glauben und frage nur, ob das linke oder das rechte – ‚beide‘, sagt er, ‚oh‘, sage ich dann, ‚das war's dann wohl‘.“

„Ich bin mir sicher, der Orthopäde würde es genauso machen.“

„Ich mir auch“, grinse ich.

„Wirst du oft medizinische Dinge gefragt?“

„Dauernd. Das geht schon im Studium los. Wildfremde Nachbarn zeigen dir ihren Zeckenbiss, und auf jeder zweiten Familienfeier hat jemand einen Furunkel am Steiß – die medizinische Versorgung beginnt weit vor der Hausarztpraxis.“

„Mir zeigen Freunde mit Kindern auch ständig die Gemälde ihrer Dreijährigen, und wenn ich vorsichtig anmerke, dass ich Germanist bin, holen sie die Videos raus mit dem Gebrabbel ihrer Säuglinge und wollen wissen, ob der kleine Raoul Vichy hochbegabt ist.“

„Wenigstens stirbt niemand, wenn du die Situation falsch einschätzt. Ich habe manchmal wirklich Angst, ich könnte etwas übersehen. Heute Nachmittag bei meiner Tante hätte ich am liebsten ein Sammeltaxi in die Rettungsstelle geschickt – Schwindel, Übelkeit, Druck auf der Brust, das kann die Torte sein oder halt auch mal ein Herzinfarkt.“

„Da sind die Videos am Ende doch die bessere Wahl ...“

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„Im Studium habe ich bei einer Party mal ein paar Leuten mein Stethoskop gezeigt.“

„Das hattest du dabei? So viel Strebertum hätte ich dir gar nicht zugetraut!“

„Ich kam direkt von der Uni“, verteidige ich mich. „Und sie wollten wissen, wie das funktioniert, also habe ich ihnen die Stöpsel ins Ohr gesteckt und den mit den meisten Muskeln gebeten, sich das T-Shirt auszuziehen.“

„Ehrlich?“

„Nein, er hat es selbst angeboten.“

Mein Nachbar grinst. „Und dann?“

„Niemand wollte zugeben, nichts gehört zu haben, also haben nach einer Weile alle eine bedeutsame Miene aufgesetzt und ‚ah‘ und ‚hm‘ gesagt und mir das Stethoskop zurückgegeben. Dann sollte ich sie abhören, und ich so, na klar, aber leider war die Musik so laut, also blieb auch mir nur ein bedeutsames ‚ah‘ und ‚hm‘ … Am Tag darauf im Untersuchungskurs ist mir dann aufgefallen, dass der Stethoskop-Trichter verdreht war und man gar nichts hätte hören können.“

Mein Nachbar lacht: „Fake it till you make it.“

Da klingelt mein Handy zum zweiten Mal.

„Deine Mutter?“

„Nein“, sage ich überrascht. „Der Späti-Mann.“

„Der Späti-Mann hat deine Nummer?“

„Ich geh‘ mal kurz ran, okay?“

„Und?“, grinst mein Nachbar, als ich zurückkomme.

Ich seufze. „Er wollte eine Salbe gegen Hämorrhoiden.“

„Wieso?“

„Ein Freund von ihm habe Hämorrhoiden, sagt er.“

„Und du glaubst es nicht?“

„Doch, ich glaube nur, dass nicht der Freund, sondern er die Hämorrhoiden hat – bei den unangenehmen Dingen ist das immer so.“

„Ah“, sagt mein Nachbar. „Was hast du ihm geraten?“

„Ich bringe ihm die Salbe gleich vorbei.“

„Wo kriegst du denn jetzt eine Hämorrhoiden-Salbe her?“

Ich stelle meine Tasche neben mich auf den Stuhl. „Die wichtigsten Dinge habe ich inzwischen immer dabei.“

„Auch wenn du mich triffst?“, fragt er entsetzt. „Ich bin doch die Zurückhaltung in Person!“

„Nein, nein“, beruhige ich ihn. „Aber ich komme doch von meiner Tante.“

„Ach so“, sagt er erleichtert. „Obwohl …“ Er wirft einen Blick in die Tasche. „Kann ich mal dein Dermatoskop ausleihen – ich habe da diesen Leberfleck am Arm.“

„Gern“, grinse ich, und dann bringe ich dem Späti-Mann die Hämorrhoiden-Salbe.

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