Tischgespräch im Juni 2024

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

Tischgespräch. Kolumne von Eva Mirasol

„Ich vermute ein mafiös organisiertes Abkommen zwischen Pflegeheimen und Feuerwehr“, sage ich.

„Ich bin ganz Ohr“, grinst er.

„Ich glaube, die Feuerwehr fährt jeden Abend mit einem großen Bus bei den Heimen vorbei und lädt alle ein, für die vergessen wurde, das Essen zu bestellen.“

Er lacht.

„Freitagabends wird die Situation dadurch verschärft, dass am Wochenende niemand arbeiten will und deshalb noch weniger Bewohner:innen versorgt werden können. Ich glaube, einem ausgeklügelten Rotationssystem auf die Schliche gekommen zu sein.“

Mein Nachbar lehnt sich interessiert nach vorne.

„Auf den Überleitungsbögen wird neben Diagnosen und Medikamenten immer auch die Zimmernummer vom Heim vermerkt, und mir ist aufgefallen, dass freitags immer die niedrigen, samstags die mittleren und sonntags die hohen Zimmernummern drankommen. Jetzt mag man sich fragen, inwiefern das von Interesse ist. Aber mein Kollege hat noch nicht promoviert, und der Chef mahnt schon lange, dass das ja langsam peinlich wird ohne Doktortitel …“

„Sag bloß“, grinst mein Nachbar.

Ich nicke, das Thema steht: „Die Anzahl der sich am Freitagabend in der Rettungsstelle per Feuerwehr vorstellenden Opas in Relation zur Höhe der Zimmernummer sowie der Verfügbarkeit von Abendessen im Spiegel der Arbeitsbereitschaft des Pflegepersonals.“

„Da soll nochmal jemand sagen, medizinische Doktorarbeiten seien zu nichts nütze.“

„Es ist noch ein Thema offen: Die Anzahl der sich am Freitagabend in der Rettungsstelle per Feuerwehr vorstellenden Omas in Relation zur Höhe der Zimmernummer sowie der Verfügbarkeit von Abendessen im Spiegel der Arbeitsbereitschaft des Pflegepersonals.“

Mein Nachbar prustet in sein Getränk.

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„Kleiner Scherz. Aber ich bin kurz davor, dem Chef eine hausinterne Studie vorzuschlagen, denn die Verdachtsdiagnosen auf den Überleitungsbögen sind immer dieselben. Mein Kollege und ich können inzwischen ziemlich genau schlussfolgern, wer gerade im Pflegeheim Dienst hat: Bei Schwester Tina ist es Schwindel, bei Pfleger Maik allgemeines Unwohlsein und bei Schwester Heidi Flüssigkeitsmangel, wobei dies eine praktisch unwiderlegbare Diagnose ist und daher der Joker an Freitagen, an denen aufgrund von Personalengpass sowieso das halbe Pflegeheim in die Rettungsstelle muss.“

„Wieso will denn niemand trinken?“

„Das bleibt unklar, aber die adäquate Flüssigkeitsaufnahme ist sozusagen ein Ausschlusskriterium für einen Platz im Pflegeheim, und falls doch jemand Durst haben sollte, ist entweder das Glas leer, oder es steht zu weit weg, oder der durstige Mensch kann sein wider Erwarten volles Glas wegen eines Schlaganfalls nicht mehr alleine halten.“

Mein Nachbar schüttelt mitleidig den Kopf.

„Eine perfide Kausalkette: Schwester Heidi ist Freitagabend alleine. In der Hektik vergisst sie, für alle das Essen zu bestellen. Die Omas der niedrigen Zimmernummern müssen also mit der Feuerwehr in die Rettungsstelle. Dort sind aber schon die Opas der hohen Zimmernummern, also bleibt nur der Joker. Und so lässt man die Oma im Vorfeld gezielt ein wenig vertrocknen, damit Schwester Heidi, wenn die Rettungsstelle sich empört beschwert, dass schon die vierzehnte Feuerwehr im Anmarsch ist, sagen kann, ja, aber schaut euch doch mal die arme Oma an, die ist ja total vertrocknet!“

„Ein wasserdichter Algorithmus …“

„… aus dem es kein Entrinnen gibt! Vor allem nicht für die Oma, in deren winzige und von diversen Voraufenthalten völlig zerstochene Venen ich dann einen intravenösen Zugang fummeln muss. Neulich hat sich eine beschwert. Sie könne doch trinken, sagte sie, aber ich war so in Zeitnot, dass ich es mir nicht leisten konnte, einer einzelnen beim Trinken zu helfen. Irgendwann habe ich ihr dann doch ein Glas Wasser geholt, und es stellte sich heraus, dass sie damit die Tablette geschluckt hat, die auf dem Tisch lag.“

„Welche Tablette?“

„Eine junge Frau hatte die Pille danach liegengelassen, und ich habe den Rest der Nacht damit verbracht, die Oma mit der Libido einer Dreißigjährigen von den ganzen Opas fernzuhalten.“

„Vielleicht kein Thema für eine Dissertation“, grinst mein Nachbar. „Aber wie wäre es mit einer Kolumne?“

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