Tischgespräch im Februar 2024

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

Tischgespräch. Kolumne von Eva Mirasol

Heute geht mein Nachbar an Krücken.

„Was hast du denn gemacht?“, frage ich mitleidig.

„Knöchel verstaucht beim Sport.“

„Du Held!“

„Ich bin beim Ballholen gestolpert. Das Spiel war bereits vorbei.“

„Oh“, grinse ich. „Wie geht es dir?“

„Schon besser. Ich wollte erst ganz brav zu meiner Hausärztin. Die hatte aber zu, also musste ich in die Rettungsstelle. Hast du schon mal zu Sprechstundenzeiten ärztliche Hilfe benötigt?“

Ich schüttle den Kopf. „Krankheit ereilt die Menschen immer am Wochenende, nachts oder am Feiertag. Das ist ein Naturgesetz.“

„Und warum sind die Rettungsstellen auch unter der Woche immer voll?“

„Das ist ein Gesetz, für das die Natur noch keine Antworten parat hat.“

Mein Nachbar lacht. „In jedem Fall kam ich zu einem jungen Arzt, der aussah wie einer meiner Schüler, aber anscheinend war er über 18, denn er hatte einen Doktortitel.“

„Muss man für einen Doktortitel volljährig sein?“, frage ich. „Das habe ich mir noch nie überlegt. Aber wenn bald alle Kinder dauerkiffen, dürft e diese Konstellation selten bleiben.“ Er grinst.

„Bist du für oder gegen die Legalisierung von Cannabis?“

„Ich bin Deutschlehrer. Du erwartest doch nicht ernsthaft , dass ich mich da eindeutig positioniere.“

„Natürlich nicht“, sage ich.

„Und du?“

„Ich habe Feierabend. Du erwartest doch nicht ernsthaft , dass ich mich da überhaupt positioniere.“

Er lacht. „Der promovierte Schüler hat mich sehr viele intime Dinge gefragt. Ob ich Kinder hätte, und wenn ja, wie viele, was ich beruflich täte, ob ich verheiratet sei oder alleine wohne …“

„Er hat wahrscheinlich Sozialanamnese geübt.“

„Ganz schön mutig, sich an dieser Stelle so viel Zeit zu nehmen.“

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„Je kürzer man im Beruf ist, desto schwerer fällt es zu priorisieren. Dabei besteht die eigentliche Kunst in der Unterlassung sowie in der maximalen Individualisierung selbst der klassischsten aller Standardfragen. Ich habe tatsächlich ein paar Fragen komplett aus meinem Repertoire gestrichen. Die nach der Heirat zum Beispiel, denn ob jemand alleine wohnt oder mit Familie, ist nur relevant, wenn ich wissen will, wie die häusliche Versorgung ist. Und auch in diesem Fall ist es egal, ob zu Hause jemand die andere Hälfte des Eherings trägt oder trotz fehlender Steuererleichterungen Zeit mit dir verbringt. Und nach Kindern frage ich nur im Kontext der Familienanamnese, sprich über den Umweg familiärer Belastung mit Krankheiten – das ist weniger übergriffig, als wenn ich mit einer weiteren intimen Frage aus dem Off die Eckdaten eines angeblich erfolgreichen Lebens abklappere: Beruf? – Aha, gerade keiner. Kinder? – Auch nicht, na dann viel Spaß im Pflegeheim. Kein Partner? – Oje, oje, oje, und jetzt auch noch krank …“

Mein Nachbar lacht. „Genauso habe ich mich auch gefühlt, dabei habe ich einen Job, plane aktuell keine Kinder und bin lediglich über meine eigenen Füße gestolpert.“

„Als ich das letzte Mal ein orthopädisches Problem hatte, klärte mich der Kollege im vollen Wartezimmer über mein Röntgenbild auf: ‚Sehr gerade Beine haben Sie, wunderschön!‘, rief er in die voll besetzte Runde, und der Blick sämtlicher Wartender glitt von der jeweiligen Zeitung hinunter zu meinen Beinen.“

„Immerhin ein Kompliment.“ „

Stimmt“, grinse ich. „Ich sollte öfter das halb volle Glas sehen.“

Er nickt zustimmend. „Wie war eigentlich dein Silvester?“

Ich winke ab. „Pflegenotstand, die Hälft e der Ärzt:innen mit Corona zu Hause, die andere Hälfte halb genesen im Dienst, und jeder Dritte mit drei Promille. Zusammenfassend ein einziges Naturgesetz. Aber der schönste Spruch kam von meinem Kollegen. Er hat zwei kleine Kinder, und eigentlich sei er der Klinik dankbar, denn sie habe ihn optimal auf die Elternschaft vorbereitet: Man ackert sich ab, aber niemand honoriert es.“

„Sind Kinder ihren Eltern im Alter nicht dankbar?“

„Du meinst, in der kurzen Zeitspanne bis zu deren Pflegebedürftigkeit?“

„Wie kann es sein, dass du bereits so früh im Jahr so hoffnungslos auf das menschliche Dasein blickst?“

„Meine Zuversicht speist sich aus der Hoffnungslosigkeit.“

„Sisyphos?“

„Sisyphos.“

„Na dann Prost“, grinst mein Nachbar. 

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