Tischgespräch im Dezember 2024

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

Tischgespräch. Kolumne von Eva Mirasol

Heute sind wir zu dritt.

„Das ist meine Schwester“, stellt er mir seine Begleitung vor. Sie ist, soweit ich das beurteilen kann, in der 50. Woche schwanger.

„Herzlichen Glückwunsch“, sage ich. „Wann ist es denn so weit?“

Sie grinst. „Der errechnete Termin ist heute.“

„Heute?“, fragt mein Nachbar entsetzt. „Ich dachte, nächste Woche!“

„Die Frauenärztin meinte, ich solle mich entspannen.“

„Und da bleibst du nicht lieber bei Robert?“

Sie schüttelt vehement den Kopf. „Auf keinen Fall! Er macht mich verrückt. Wahrscheinlich baut er gerade wieder das Wochenbett ...“  Auf meinen fragenden Blick hin fügt sie hinzu: „Wir haben neulich in einem Ratgeber geblättert: ‚Praktische Tipps fürs Wochenbett – Wie baut man sich sein Nest?‘ und er rief: ‚Oh nein, wir haben noch kein Wochenbett!‘ Nach einer Weile stellte sich heraus, dass er wirklich dachte, er müsse das jetzt noch bauen …“

„Der Arme! Da plant ihr gemeinsam die Zukunft eures Kindes, sitzt romantisch auf dem Sofa …“

„Von wegen romantisch“, unterbricht sie meinen Nachbarn. „Das war das erste Mal seit langem, dass wir überhaupt irgendwo saßen. Erst war mir monatelang übel, dann hatten wir diesen Streit, weil er im Geburtsvorbereitungskurs nicht aufgehört hat zu lachen, und jetzt schnarche ich angeblich so laut, dass er im Arbeitszimmer schläft.“

„Oh“, sage ich mitleidig.

Sie winkt ab. „Das macht nichts. Ich führe eine innige Beziehung mit dem Stillkissen.“

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Mein Nachbar zieht ihr Getränk zu sich. „Immerhin gibt es alkoholfreies Bier.“

„Wenn Männer schwanger wären, gäbe es stattdessen wahrscheinlich eine Studie, die bewiese, dass Alkohol die Entwicklung des Embryos begünstigt“, sage ich.

Die Schwester lacht. „Viel schlimmer ist der ganze Rest! Keine Salami, keine Mettwurst, kein roher Fisch, keine rohen Eier, keine Rohmilchprodukte …“

„Wer trinkt schon Rohmilch?“, fragt mein Nachbar. „Zumal in der Stadt …“

„Schon mal nachgedacht, woraus Camembert besteht? Ich verbringe Stunden an der Käsetheke, nur um dann regelmäßig beim Kinder-Käse zu landen. Und das, wo das Baby noch nicht mal geboren ist.“

„Kinder-Käse?“

„Die gelben Scheiben, die nach Löschpapier schmecken. Die sind als einzige eindeutig markiert.“

„Apropos, hast du Hunger?“

Sie studiert die Speisekarte. „Nichts dabei“, seufzt sie.

„Wieso? Du magst doch Salat!“

„Man soll nur gründlich selbst gewaschenes Gemüse essen, zumindest wenn man Toxoplasmose-negativ ist.“

Mein Nachbar sieht sie fragend an.

„Durch Toxoplasma gondii verursachte Erkrankung, die beim Ungeborenen schwere neurologische Schäden, Früh-, Fehl- oder Totgeburten verursachen kann“, sagt sie wie aus der Pistole geschossen.

„Normalerweise klingt nur Eva wie ein Arztbrief.“

„Man wächst mit seinen Aufgaben. Auch Listerien in der Leberwurst waren mir neu.“

„Listerien in der Leberwurst, im Ei die Salmonelle, die Schwester an der Theke, das geht nicht auf die Schnelle …“

Sie lacht: „Du hast CMV vergessen – Hörverlust, neurologische Schäden, Fruchttod. Das Virus findet sich sogar in Tränenflüssigkeit. Falls du also bereits ein Kindergartenkind hast, tröstest du es besser neun Monate lang nicht.“

Jetzt lache ich.

„Dann nimmst du halt das Sushi“, sagt er.

„Haha“, sagt sie und boxt ihn in die Seite. „Ich kann es kaum erwarten, bis du endlich Kinder kriegst.“

„Bitte nicht! Ich brauche ihn dringend hier am Freitagabend!“

Mein Nachbar räuspert sich.

„Du hast es ihr noch gar nicht erzählt?“

„Ich weiß es doch selbst erst seit gestern!“

„Was denn?“, frage ich neugierig. „Wirst du wirklich Vater?“

„I wo! Aber ich wurde versetzt. Ans Goethe-Institut in Florenz.“

„Wow! Das ist ja toll – warum hast du nichts erzählt?“

„Es war lange unklar, ob es klappen würde, und es ist auch nur temporär. In einem Jahr bin ich wieder da.“

„Und was mache ich bis dahin?“

„Es gibt einen Nachtzug ...“ Er grinst.

„Na dann Prost“, sage ich und hebe mein Glas.

„Was ist mit dir?“, fragt er. „Noch ein CMV-freies Bier?“

Seine Schwester sieht uns an.

„Was denn?“, fragt er.

„Ich glaube, mir ist gerade die Fruchtblase geplatzt.“

Und dann fahren wir zum Abschied alle gemeinsam in die Rettungsstelle.

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