Tischgespräch im Dezember 2023

Freitagabend. Ich sitze in der Kneipe und trinke etwas mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar ist Lehrer und hat immer frei. Den Witz mache ich jedes Mal. Dafür belächelt er meinen Doktortitel. Wir sind also quitt.

Tischgespräch. Kolumne von Eva Mirasol

Heute ist ausnahmsweise er zu spät, doch ich bin ohnehin nur halb wach, also bleibe ich sitzen und bestelle eine riesige Cola. Ich spüre, wie der Schichtdienst an mir zehrt: 3x Nacht, 3x Spät, ein Tag frei, 4x Früh, 3x Spät, 3x Nacht und dann vier Tage frei. Gestern bin ich auf dem Heimweg in der Ringbahn eingeschlafen und erst kurz vor der Station, an der ich aussteigen musste, wieder aufgewacht. Gerade noch rechtzeitig könnte man meinen, aber nach einem kurzen Blick aufs Handy war klar, dass ich die Runde gerade zum zweiten Mal gefahren bin. Ich habe meinen Oberarzt gebeten, mir zumindest am Wochenende vor dem Urlaub keinen Nachtdienst einzutragen – vergeblich. Ich hätte doch neulich vier Tage freigehabt, sagte er. Dafür hätte er früher einen Mord begangen.

Sie scheint niemals aus der Mode zu geraten, die Mär von der faulen neuen Generation. Erzählt von der alten, ungeachtet der Tatsache, dass die neue schon lange nicht mehr neu ist und dass das Selbstbewusstsein der noch neueren vielleicht erstmalig dazu führt, dass der Fachkräftemangel auch auf ärztlicher Ebene zu einem eklatanten Problem wird. Egal auch, dass sich in den vergangenen 50 Jahren nicht nur die Gesellschaft verändert hat, sondern auch die ärztliche Tätigkeit an sich. Dass mehr Arbeit in weniger Zeit erledigt werden muss, dass Bürokratie nicht nur ein Kampfbegriff ist, sondern ein echtes Problem, und dass die meisten ärztlichen Kolleg:innen für das Wohl der ihnen anvertrauten Menschen auch heute noch ständig ihre persönlichen Grenzen überschreiten.

Es ist ein naiver Gedanke, aber ich frage mich seit meinem ersten Arbeitstag, wie man glaubt, Menschen gesund machen zu können, wenn die, die dafür Sorge tragen sollen, dabei krank gemacht werden. Die Klinik ist nicht der einzige Ort, an dem dies geschieht. Sie ist nur der, an dem es aufgrund der Notwendigkeit, eine 24-Stunden-Versorgung zu gewährleisten, am meisten auffällt. Doch auch die Kolleg:innen aus dem ambulanten Bereich, die sich womöglich bewusst gegen Klinik, Dienste und die damit verbundene Unplanbarkeit entschieden haben, müssen jetzt dabei zusehen, wie nicht nur nicht registriert wird, was sie bei der Pandemiebekämpfung geleistet haben, sondern auch wie eine große Krise zu einer Bagatelle degradiert und politisch, aber auch gesellschaftlich scheinbar erwartet wird, dass ein weiterer Sektor mit unbezahlter Mehrarbeit in Eigeninitiative das Schiff vom Sinken abhält. Außer der Masterplan liegt in der Abschaffung des ambulanten Systems an sich, dann läuft möglicherweise alles ganz gut.

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Neulich saß eine Gruppe Erstsemester in meinem Seminar, und ich habe sie gefragt, warum sie sich für ein Medizinstudium entschieden haben. Die meisten waren 18 Jahre alt und hatten ergreifend offene Gesichter voller Neugier und Energie. Was sie erzählten, rührte mich an, so abgedroschen es klingen mag. Ausnahmslos alle sprachen von ihrem Wunsch, mit Menschen arbeiten zu wollen, helfen zu wollen, etwas Gutes tun, dem Leben Sinn verleihen zu wollen – und ja, der fachliche Aspekt schien auch für manche von Interesse. Aber niemand sprach davon, als gut geöltes Rädchen im System einer zynischen Wirtschaftlichkeit schon bald eine unmögliche Wahl nach der anderen treffen zu wollen: Beruf oder Privatleben, Überstunden oder Vertragsverlängerung, funktionieren oder aufgeben?

Das Leben bleibt wohl selten so unbeleckt von sich selbst wie am Ende der Jugend – und fast schämte ich mich für meinen Wissensvorsprung an Realität – aber welch Potenzial und welch Hoffnung liegen in dieser Momentaufnahme. Und welch schöne Erinnerung an die Essenz des eigenen Tuns. Ich wünsche den neuen Kolleg:innen, dass sie in einer Welt arbeiten dürfen, in der ihre Arbeitskraft sinnvoll genutzt, aber nicht ausgenutzt wird. Ich wünsche ihnen, dass man ihnen mit Respekt begegnet, und ich wünsche ihnen eine Zukunft, in der sie gerne ärztlich tätig sind, weil ihnen erlaubt wird, sich auf das zu konzentrieren, was sie ursprünglich dazu bewogen hat, ärztlich tätig zu werden: die Menschen.

„Hey“, sagt mein Nachbar und klopft mir auf die Schulter. „Tut mir leid, dass du warten musstest.“
„Kein Problem“, sage ich. „Ich habe meine Weihnachtsansprache geübt. Wenn ich bald Gesundheitsministerin bin …“

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