„Sieh es als politisches Statement“, sagt er. „Die Ausrede, mein Auto fährt mit Gas, zieht ja ohnehin nicht mehr.“
„Es ist kein Auto“, sage ich.
„Ich weiß: Es ist ein Chevrolet Van G20, Baujahr 1993, 8 Zylinder, verdunkelte Scheiben, 2 Meter breit, 5 Meter lang. Aber seit Beginn des Ukraine-Kriegs bist du nicht mehr gefahren.“
„Der Van steht seit Februar 2022 in der Werkstatt.“
„Das weiß ja außer mir niemand.“
„Doch, der Mechaniker. Mein Van ist seine Altersvorsorge.“
Mein Nachbar grinst. „Meine Altersvorsorge bist du. Du weißt, dass ich nicht reanimiert werden möchte.“
„Wieso eigentlich nicht?“
„Hörst du dir manchmal deine eigenen Geschichten an?“
...
Am nächsten Tag macht mir der Mechaniker einen absurden Kostenvoranschlag.
„Darüber muss ich erst nachdenken.“
„Frau Doktor, ich habe Ihnen schon oft gesagt, dass Sie nicht so viel nachdenken sollen. Ich bin Ihr Mechaniker, nicht Ihr Patient.“
„3.000 Euro!“
„Denken Sie einfach an etwas anderes.“
„An was denn?“
„Zum Beispiel an das Fahrgefühl in einem Smart. Stellen Sie sich vor, wie Sie einsteigen und sich direkt den Kopf stoßen. Dann die Knie, die Schultern und nochmal den Kopf – und dann kriegen Sie Ihre Tasche nicht unter. Stellen Sie sich vor, wie die umkippt, wie das Handy rausfällt und unter den Sitz rutscht, der sich natürlich nicht zurückschieben lässt. Und jetzt schließen Sie die Augen. Stellen Sie sich vor, wie Ihr Kopf dröhnt und Ihr Freund viel zu dicht neben Ihnen auf dem Beifahrersitz sitzt. Das war doch neulich Ihr Freund?“
„Nachbar.“
„Denken Sie daran, wie Sie sich ärgern, dass Sie heute nüchtern bleiben mussten und er lauthals neben Ihnen schnarcht.“
„Woher wissen Sie …?“
„Schließen Sie Ihre Augen.“
„Okay.“
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„Stellen Sie sich vor, wie Sie den Streit Ihres Lebens auf einem Quadratmeter austragen müssen. Und wie dann vor Ihrer Wohnung alle Parkplätze frei sind. Wie ganz Berlin vorwärts einparkt, und wie sich der Kauf eines Smart nicht einmal mehr im Hinblick auf enge Parklücken rentiert.“
Ich lächele.
„Gerade haben Sie zum ersten Mal gelächelt.“
„Woher wissen Sie das? Wir telefonieren.“
„Ich fühle das.“
Ich öffne die Augen.
„Schließen Sie bitte Ihre Augen“, tönt es aus der Leitung.
Ich gehorche.
„Und jetzt stellen Sie sich vor, wie Sie Ihren riesigen Van aufschließen. Stellen Sie sich vor, wie Sie Ihre Tasche lässig in den Mittelgang stellen, Ihre hohen Schuhe anlassen, weil man Automatik auch mit High Heels fahren kann.“
„Woher wissen Sie …?“
„Stellen Sie sich vor, wie Ihre Füße sich strecken, Ihr Rücken sich dehnt – das ist doch Prävention pur!“
„Ich dachte, Sie sind mein Mechaniker.“
„Denken Sie daran, wie Ihr Freund …“
„Nachbar!“
„… wie er hinten auf dem umgeklappten Sitz so laut schnarchen kann, wie er will und wie Ihnen das völlig egal ist. Weil Sie ein riesiges Auto haben! Das noch dazu mit Gas fährt!“
„Aber der Ukraine-Krieg …“
„Sie sind ja seit 2022 nicht mehr gefahren.“
„Das weiß ja außer Ihnen niemand.“
„Frau Doktor! Denken Sie daran, wie Ihr Freund Sie gar nicht stört! Es ist fast so, als hätten Sie keinen! Aber angenommen …“ Er macht eine bedeutsame Pause: „Angenommen, Sie wollten sich versöhnen und im Schutz der verdunkelten Fensterscheiben auf der Rückbank mit Ihrem Freund …“
„Nachbarn. Wie kommen Sie überhaupt darauf …?“
„Sie sind nicht der einzige Mensch mit Van, der seit Februar 2022 nicht mehr fährt.“
Ich mache eine lange Pause. „Soll ich bar bezahlen?“, frage ich.
„Ich glaube, Frau Doktor, eine Rechnung ist wie immer für alle Beteiligten der sicherste Weg. Am Ende ist Ihr Freund Anwalt.“
„Mein Nachbar ist Lehrer.“
„Noch schlimmer.“
„Mein Van ist Ihre Altersvorsorge, richtig?“
„Richtig“, sagt der Mechaniker. „Ihr Van und Ihre Geschichten.“
„Wie meinen Sie das?“
„Meine Frau und ich haben jetzt eine Patientenverfügung.“
„Oh“, sage ich.
„Nein, nein“, sagt er. „Wir sind Ihnen sehr dankbar. Ihr Freund hat ja auch schon eine.“
„Nachbar“, sage ich.
„Jaja, genau“, sagt er. „Schönen Gruß übrigens.“