Innenansicht einer Schizophrenie

Nicht nur Laien, auch Ärzt:innen fällt es zuweilen schwer, eine tiefe Einsicht in das Krankheitsbild der Schizophrenie oder anderer psychischer Erkrankungen zu erlangen. Die im Chronos Verlag in Zürich erschienene und kommentierte Neuausgabe der bereits 1912 veröffentlichten Abhandlung „Die Schizophrenie“ des Schaffhauser Chemikers Karl-Heinrich Fehrlin (1866–1943) kann dazu beitragen, die Krankheit besser zu verstehen.

Buch-Cover: Die Schizophrenie

Eine Reise in das Herz der Schizophrenie

In der Welt der Psychiatrie ist die Abhandlung von Karl-Heinrich Fehrlin ein einzigartiger medizinhistorischer Schatz. Die Neuausgabe entführt die Leser:innen in eine der am meisten missverstandenen und dennoch faszinierendsten psychischen Erkrankungen. Fehrlins Werk ist nicht nur eine wissenschaftliche Abhandlung, es ist eine Reise in das Herz der Schizophrenie, beschrieben von jemandem, der diese unergründliche Welt aus eigener Erfahrung kennt. In einzigartiger Weise berichtet der selbst an Schizophrenie erkrankte Fehrlin, dass und wie er Stimmen hört, wie er versucht, die Halluzination zu verarbeiten und mit der ihm eigenen Neugier und seinem Forschungsinteresse die Erkrankung für sich selbst erklärlich zu machen. Wo sich der Autor zu Beginn der Erkrankung noch dem Kampf gegen die anfangs nur kommentierenden Stimmen stellt, erlangen im Verlauf jedoch zunehmend die Stimmen selbst die Kontrolle über den Text.

Selten gelingt der breiten Öffentlichkeit eine intensive Einsicht in die schwere und dennoch faszinierende psychiatrische Erkrankung Schizophrenie. Die Stigmatisierung der Erkrankung in unserer Gesellschaft, aber auch eine Selbststigmatisierung und ein krankheitsbedingter sozialer Rückzug begünstigen dies. So entstand eine Mystifizierung der Erkrankung Schizophrenie, die eine weitere Stigmatisierung noch begünstigt. Angefangen von der Idee von Psychopath:innen bis hin zur Vorstellung, dass an Schizophrenie Erkrankte eine gespaltene Persönlichkeit hätten, geistern Vorurteile und Stereotypien durch unsere Gesellschaft und schließen oft auch medizinisches Personal und sogar Ärzt:innen nicht aus. Betroffene berichten aus Scham, aus Angst vor Marginalisierung, aufgrund negativer Erfahrungen, aber auch wegen der durch die Erkrankung auftretenden kognitiven Symptome sehr selten öffentlich über ihre Erkrankung oder die von ihnen erlebten Symptome und Phänomene.

Anders die hier rezensierte Neuausgabe der Abhandlung von Karl-Heinrich Fehrlin, die eine einzigartige Innenansicht der Krankheit eröffnet. Kathrin Luchsinger und René Sprecht haben Fehrlins Originaltext nicht nur kommentiert, sondern auch in eine schriftdeutsche Übersetzung übertragen und damit einem breiten Leserkreis zugänglich gemacht. In seinen Aufzeichnungen gelangte Fehrlin damals zu der Überzeugung, dass Geister verstorbener Schaffhauserinnen und Schaffhauser zu ihm sprächen. Die Stimmen forderten ihn auf, nach ihrem Diktat im lokalen Dialekt zu schreiben. Zu dieser Zeit beschäftigte sich Fehrlin mit spiritistischer und psychiatrischer Literatur. Er hoffte, seinen Austausch mit den Geistern als Methode des Erkenntnisgewinns etablieren zu können.

In der kommentierten Neuausgabe tauchen wir tief in die innere Wahrnehmung des Betroffenen ein. Präzise und sprachgewaltig beschreibt Fehrlin die Veränderung in seinem Denken, Empfinden und Handeln.

Symptome des Wahns, der Sinnestäuschung und der Ich-Störung werden nachvollziehbar

Karl-Heinrich Fehrlin kam aus einer angesehenen Schaffhauser Familie. Er studierte Chemie an der ETH Zürich und war bereits mit 44 Jahren Direktor der Firma Dr. Fehrlin, die das Tuberkulosemittel Histosan® herstellte. Der Autor hatte Großes vor, er wollte Schaffhausen zu einer internationalen touristischen Attraktion entwickeln und überlegte, in die Politik zu gehen. Doch im Frühjahr 1910 nahm er plötzlich Stimmen wahr, ohne dass Personen zu ihm sprachen. Er war verstört, suchte jedoch keine ärztliche Hilfe, sondern zog die Wissenschaft zurate. Dazu studierte er Texte zum Spiritismus und zur Telepathie. Nachdem immer mehr Fehlhandlungen auftraten und Fehrlin zunehmend verwirrt wirkte, wurde er in die „Irrenanstalt“ Breitenau eingewiesen. Drei Wochen befand er sich dort und man diagnostizierte eine „Dementia praecox“, eine irreversible Geisteskrankheit. Das Stimmenhören ließ nicht nach. Fehrlin wollte jedoch beweisen, dass er nicht geisteskrank war und verfasste Anfang 1912 die Abhandlung „Die Schizophrenie“ in einer Auflage von 5.000 Stück. Dieses Buch verschickte er an führende Psychiater:innen der Schweiz und an die Schaffhauser Regierung. Auch wenn ein Großteil der Auflage vernichtet wurde, fand die Kunsthistorikerin Kathrin Luchsinger ein Manuskript in der Schaffhauser Stadtbibliothek. René Sprecht überführte es schließlich aus dem lokalen Schaffhauser Dialekt in eine schriftdeutsche Übersetzung.

Fehrlin entwickelt in seinem Buch eine Geistertheorie. Die Stimmen, die er hörte, kamen demnach von den Toten, die aber nicht tot seien. Die guten und bösen Geister seien maßgeblich dafür verantwortlich, wie ein Mensch lebt. Dabei verknüpft der Autor jahrhundertealten Volksglauben und den Spiritismus. Immer deutlicher treten im Verlauf der Abhandlung Fehrlins die Symptome einer Schizophrenie zutage. Besonders wertvoll sind die Aufzeichnungen aus den verschiedenen Phasen seiner Erkrankung. Dadurch wird die Kontinuität des unbehandelten Krankheitsverlaufes sichtbar. Ohne die Symptome des Wahns, der Sinnestäuschung und der Ich-Störung medizinisch einordnen zu können, werden diese in seinen Texten deutlich und nachvollziehbar. Darin liegt auch der große Wert der Übersetzung. Einmal eingelassen auf die teilweise bizarr und paralogisch anmutende Erlebniswelt ermöglichen die Texte medizinischen Laien, aber auch nichtpsychiatrisch tätigen Ärzt:innen einen sehr tiefen und emotionalen Einblick in das schwere Krankheitsbild dieser häufigen psychiatrischen Erkrankung – und somit ein besseres Verständnis für Denk- und Verhaltensweisen schizophren Erkrankter. Das Buch sei jeder Medizinerin und jedem Mediziner an die Hand gegeben. Es ist unbedingt lesenswert.

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