Das Rezept

Mal sarkastisch, mal humorvoll, aber immer ehrlich: Unsere Autorin, Frau Dr. Titel, blickt hier regelmäßig hinter die Kulissen und erteilt Ratschläge – quasi auf Rezept.

Der Beipackzettel

Irgendwann kommt jeder von uns in das Alter, in dem die Arme zu kurz sind, um die Schrift auf dem Beipackzettel zu entziffern. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine altersbedingte Weitsichtigkeit in Zukunft überhaupt noch relevant sein wird. Schließlich wird unsere Welt immer digitaler. Ein Bildschirm lässt sich jederzeit größer zoomen und die KI liest uns Inhalte vor. Straßenkarten werden durch digitale Navigation ersetzt und das Erlernen von Sprachen durch 1:1-Simultanübersetzungs-Apps. Während darüber diskutiert wird, ob Kinder in der Schule überhaupt noch Schreibschrift lernen müssen, ist langfristig damit zu rechnen, dass das Schreiben durch Tippen ersetzt wird. In der Zwischenzeit passt sich unser Hippocampus durch die Erweiterung des Daumenareals an. Unsere Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer und das Lesen langer Texte übersteigt das durch TikTok adaptierte Konzentrationsvermögen. Jemand mit sehr orangefarbener Haut jenseits des Atlantiks verzichtet auf das Lesen täglicher Bulletins über die politische Weltlage, und es wird gescherzt, dass ihm bei Staatsbesuchen tunlichst keine Bücher geschenkt werden sollten.

Dabei sind Bücher etwas Wunderbares! Egal, ob als Audiobook, auf dem E-Reader oder altmodisch haptisch! Empfehlen möchte ich Ihnen heute das Buch „Sternenmenschen – David Bowie in Gugging“. Worum geht es? Bowie und sein genialer Mitstreiter Brian Eno besuchten 1994 auf Einladung von André Heller die Nervenheilanstalt Gugging in Wien. Seit den 1950er-Jahren wurden die Patient:innen dort zum Malen und Zeichnen angehalten, sodass eine regelrechte Künstlerkolonie entstand, die in der Kunstgeschichte „Art Brut“ genannt wird. Dem Musiker lag der Besuch besonders am Herzen, da auch sein Halbbruder Terry aufgrund einer schizophrenen Erkrankung zeitlebens institutionalisiert war. Aus diesem Besuch entstand das Album „1.Outside“.

Als Außenseiter galt auch – jedenfalls laut KI-Auskunft – Christoph Schlingensief. Er war eine markante Figur und bekannt für seine radikale Kunst, mit der er gesellschaftliche Normen und Tabus hinterfragte, sowie für seine Aktionen, mit denen er sich für marginalisierte Gruppen einsetzte. Die Nationalgalerie Berlin widmet ihm bis auf Weiteres einen eigenen Raum. Äußerst lesenswert ist auch sein Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“, in dem sich Schlingensief mit seiner Lungenkrebserkrankung auseinandersetzt. Es ist nicht nur für jeden Palliativmediziner Pflichtlektüre, sondern für jeden, der sich mit Leben und Tod, Sinn und Glauben auseinandersetzt. Und sollten wir das nicht alle tun? Wenn auch nur in Form von Büchern, die die Möglichkeit bieten, in fremde Leben, andere Zeiten und neue Perspektiven einzutauchen. So inspirierte Bowie nicht nur einen britischen Palliativmediziner zu dem Artikel „Thank you letter to David Bowie from a palliative care doctor“, er war selbst auch als Leseratte bekannt und reiste nie ohne Dutzende Bücher im Gepäck. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem sei das Stück „Heroes“ am Berliner Ensemble empfohlen.

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Wer jetzt einwendet, Lesen sei eine einsame Tätigkeit, dem sei der Besuch von Lesungen und Lesebühnen empfohlen. In Berlin gibt es auch Buchclubs und Lesecafés. Das Tierheim Berlin bietet etwa das Konzept „Kinder lesen Katzen vor“, eine Win-Win-Situation für beide. Die Kinder stärken ihre Lesekompetenz, ohne Druck oder Kritik und in ihrem eigenen Tempo, und die Tiere gewöhnen sich an menschliche Stimmen und Gesellschaft. Lernforscher:innen haben außerdem festgestellt, dass wir digitale Texte eher überfliegen und weniger genau aufnehmen. Für tiefes Verständnis ist analoges Lesen überlegen. 

Also greifen Sie doch mal wieder zu einem Buch. Und dafür verschreibe ich heute (so nötig): Eine Lesebrille!

Rp: Sehhilfe R/L dpt +/+

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