„Im Zweifel wählen die Bürger:innen die 112“

Ein Gespräch mit Dr. med. Eiko Spielmann und PD Dr. med. Julian Friebel von der Berliner Feuerwehr über steigende Einsatzzahlen in der Notfallversorgung, Nachwuchsmangel und den Wunsch nach mehr Respekt für die Rettungskräfte.

PD Dr. med. Julian Friebel
Interview mit
PD. Dr. med. Julian Friebel

Oberarzt in der Einsatzvorbereitung Rettungsdienst

Foto: Berliner Feuerwehr
Dr. med. Eiko Spielmann
Interview mit
Dr. med. Eiko Spielmann

Stellvertretender Ärztlicher Leiter Rettungsdienst (k)

Foto: Berliner Feuerwehr
Notärztin und Notfallsanitäterin im Einsatz

Eine Notärztin und eine Notfallsanitäterin bereiten sich auf einen Einsatz vor. Jedes Notarzteinsatzfahrzeug ist mit mindestens zwei Personen mit verschiedenen Qualifikationen besetzt.

Redaktion: Herr Dr. Spielmann, was tun Ärzt:innen bei der Berliner Feuerwehr?

Eiko Spielmann (ES): Eine wesentliche Aufgabe der ärztlichen Kolleg:innen ist die unmittelbare Patientenversorgung in der Notfallrettung, in erster Linie im Einsatzdienst auf Notarzteinsatzfahrzeugen (NEF), auf den Intensivtransportwagen (ITW) oder in der Luftrettung. Dazu kommt der Einsatz als Oberärztin oder -arzt vom Dienst mit eigenem Fahrzeug bzw. als leitende Notärztin oder leitender Notarzt. Das macht etwas mehr als 50 Prozent der Tätigkeit aus. Darüber hinaus leiten die Oberärzt:innen jeweils ein Ressort innerhalb der Ärztlichen Leitung Rettungsdienst und setzen dort Projekte um.

Wie ist das notärztliche Personal in Berlin organisiert?

Julian Friebel (JF): Wenn man in Berlin ein Notarzteinsatzfahrzeug sieht, ist dieses in über 95 Prozent der Fälle mit einer Ärztin oder einem Arzt aus einer Klinik besetzt. Das heißt, der Großteil der 500 Notärzt:innen in Berlin – mit Ausnahme der bis zu elf Oberärzt:innen, die bei der Berliner Feuerwehr arbeiten – sind in einem Krankenhaus angestellt, aber für diese Schicht als Notärztin oder Notarzt im Einsatzdienst. Die bei der Berliner Feuerwehr angestellten Ärzt:innen übernehmen dagegen zusätzlich übergeordnete Aufgaben in den Bereichen Supervision, Planung, Qualitätsmanagement und -sicherung.

ES: Der Notarztdienst der Berliner Feuerwehr wird regelmäßig ausgeschrieben. Die Vergabe erfolgt in Losen. Dabei stellen die Klinikverbünde oder die einzelnen Kliniken für die Notarztstützpunkte der Berliner Feuerwehr Notärzt:innen, die dann auf den Notarzteinsatzfahrzeugen tätig sind. Für Bürger:innen ist also erst einmal nicht zu erkennen, ob in einem Notarzteinsatzfahrzeug eine Notärztin oder ein Notarzt aus einer Berliner Klinik oder von der Feuerwehr unterwegs ist.

Im Jahr 2022 hat alle 26 Sekunden ein Mensch in Berlin in der Leitstelle der Berliner Feuerwehr angerufen und um Hilfe gebeten. Ca. 475.000 der daraus resultierenden Einsätze entfielen auf die Notfallrettung – ein neuer Rekord. Wie kommt es zu dieser starken Zunahme?

ES: Das war tatsächlich erneut die höchste Beanspruchung des Rettungsdienstes (siehe Jahresbericht 2022) und hat unterschiedliche Ursachen. Der Notruf ist niedrigschwellig und wird in einer Stadt wie Berlin, deren Bevölkerung stark wächst, immer häufiger in Anspruch genommen. Ein weiterer Auslöser ist, dass zunehmend soziale Netzwerke und familiäre Strukturen wegfallen und immer mehr, vor allem ältere Menschen allein leben. Oft wissen sie sich selbst bei kleineren medizinischen Problemen nicht anders zu helfen. Vermutlich hat die Zunahme auch mit einer gesteigerten Anspruchshaltung der Menschen zu tun. Wer heute etwas im Online-Shop bestellt und morgen die Lieferung erhält, der hat vielleicht wenig Verständnis dafür, dass er unter Umständen sechs Wochen auf einen MRT-Termin warten muss. Die Fallzahlen in der Notfallversorgung steigen dementsprechend immer weiter an, sowohl im Rettungsdienst als auch in den Notaufnahmen.

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Wo sehen Sie Lösungsansätze?

ES: Ein wichtiger Baustein ist unsere Kooperation mit der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KV Berlin). Diese Zusammenarbeit haben wir in den vergangenen zwei Jahren deutlich intensiviert, denn im Zweifel wählen die Bürger:innen die 112. Deshalb wird bereits bei der Annahme des Notrufes in der Leitstelle der Berliner Feuerwehr auf Grundlage eines strukturierten Protokolls triagiert, ob es ein klassischer Notfall ist, der einer notfallmedizinischen Versorgung bedarf, oder ob der Fall in die Zuständigkeit des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes der KV Berlin fällt.

Um unsere Aufgaben erfüllen zu können, sind wir auf leistungsstarke Partner angewiesen, die über die notwendigen Kapazitäten verfügen und uns entlasten können, ob nun bei der KV Berlin oder in den Notaufnahmen. Es nützt uns nicht, wenn wir einen Fall abgeben und nach 30 Minuten kommt die Rückmeldung: „Wir haben keine Kapazitäten.“ Dann müssen wir den Einsatz trotzdem fahren oder weitere Wege zurücklegen. Im vergangenen Winter waren vor allem im Bereich der Pädiatrie die Intensivbetten sehr knapp – das bindet bei uns Ressourcen, weil die Einsatzfahrzeuge geblockt sind und nicht für andere Einsätze zur Verfügung stehen.

JF: Die Menschen rufen bei uns an, weil sie Hilfe brauchen. Aber nicht immer benötigen sie medizinische Hilfe. Das ist ein Problem, denn die Konsequenz ist momentan, dass der Rettungsdienst aktiv werden muss, auch weil es an alternativen Versorgungsstrukturen fehlt. Es gibt verschiedene Ansätze und Projekte, um solche Strukturen zu etablieren. Ein Beispiel ist die ambulante Versorgung im häuslichen Umfeld mit Gemeindesanitäter: innen. Doch solange es sie nicht gibt, muss oft doch der Rettungswagen ausrücken.

Der Fachkräftemangel ist ein großes Thema im Gesundheitswesen. Betrifft das auch die Berliner Feuerwehr – und dort den ärztlichen Bereich?

ES: In der Notfallmedizin ist der Fachkräftemangel ein riesiges Problem. Durch die Änderung der Berufsgesetzgebung im Jahr 2014, mit der die zweijährige Ausbildung zur Rettungsassistentin bzw. zum Rettungsassistenten durch die dreijährige Ausbildung zur Notfallsanitäterin bzw. zum Notfallsanitäter ersetzt wurde, hat sich die Personalnot noch verschärft. Die Notfallsanitäter: innen heute sind besser qualifiziert und haben deutlich mehr Handlungsspielraum, insbesondere im Land Berlin, wo sie regelmäßig fortgebildet und zertifiziert werden. Sie dürfen beispielsweise gemäß den Medizinischen Handlungsanweisungen (SOP) bestimmte Medikamente verabreichen. Dennoch: Es gibt einfach nicht genügend Notfallsanitäter:innen. Das betrifft uns ebenso wie die Hilfsorganisationen und ist ein bundesweites Phänomen. Rettungsfahrzeuge können deshalb oft nicht besetzt werden.

Die Notfallmedizin hat sich in den vergangenen Jahren enorm entwickelt. Das reformierte Berufsbild Notfallsanitäter:in hat einen unglaublichen Zuwachs an Qualität ermöglicht – ein Ansporn auch für die Notärzt:innen, ihre Expertise weiterzuentwickeln.

PD Dr. med. Julian Friebel,
Oberarzt in der Einsatzvorbereitung Rettungsdienst, Berliner Feuerwehr

JF: Beim notärztlichen Personal sieht das glücklicherweise anders aus: In Berlin gibt es – anders als beispielsweise im ländlichen Raum – ausreichend Notfallmediziner:innen. So etwas wie Notarztbörsen für freiberufliche Notärzt:innen braucht es hier nicht.

ES: Für die Berliner Feuerwehr selbst ist es schwieriger, ärztlichen Nachwuchs zu gewinnen, da hier angestellte Ärzt:innen nicht nach TV-Ärzte bezahlt werden. Das ist so, weil sie nicht überwiegend in der unmittelbaren Patientenversorgung tätig sind, sondern auch konzeptionelle und Supervisions-Tätigkeiten übernehmen – was allerdings für Leitungsfunktionen nicht unüblich ist. Im Tarifvertrag ist dieses breitere Tätigkeitsspektrum allerdings nicht vorgesehen. Unter den Umständen und bei den hohen Lebenskosten entscheiden sich dann manche Interessierte doch gegen eine Tätigkeit bei uns. Aus unserer Sicht ein Missstand. 

Rettungskräfte erleben im Einsatz zunehmend Übergriffe, Pöbeleien und tätliche Angriffe. Wie gehen Sie damit um?

ES: Das Problem betrifft alle Kolleg:innen bei der Feuerwehr und wir stellen dies mit Erschrecken fest. Denn eigentlich kommt die Feuerwehr aus der Mitte der Gesellschaft. Sie wurde gegründet, um einander in Notlagen und bei Bränden zu schützen. Insbesondere der Rettungsdienst ist nur dazu da, Menschen zu helfen, die in höchster gesundheitlicher Not sind. Umso schwerer sind die Aggressionen nachvollziehbar. Auch daran wird ersichtlich, dass sich soziale Strukturen verändern.

Wie schätzen Sie die medialen Kampagnen ein, die aktuell für mehr Respekt für Einsatzkräfte werben?

ES: Ich sehe keine Alternative dazu. Man muss versuchen, die Menschen dafür zu sensibilisieren, dass es die Aufgabe der Einsatzkräfte ist, ihnen und ihren Nächsten zu helfen. Jede und jeder kann in die Situation geraten, die Hilfe der staatlichen Strukturen zu benötigen. Nicht zuletzt deshalb sind es schützenswerte Strukturen. Ein paar wenige Menschen sehen das leider nicht, rufen aber trotzdem an, wenn sie selbst Hilfe benötigen.

JF: Jeder Einsatz erfordert eine Menge Fingerspitzengefühl. Manche heiklen Situationen entstehen durch Überforderung der Hilfesuchenden. Bei den Notfallsanitäter:innen ist das Thema Kommunikation deshalb inzwischen fester Bestandteil der Ausbildung, etwa mit einem Deeskalationstraining.

Berliner Feuerwehr

Fellowship-Programm

Mit dem EMS Fellowship-Programm, das Teil der Vereinbarungen mit den Vertragskliniken ist, werden die ärztlichen Ressourcen der Berliner Feuerwehr verstärkt. In dem Programm rotieren erfahrene, in Berliner Krankenhäusern angestellte Fachärzt:innen mit der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin jeweils für ein Jahr zur Berliner Feuerwehr.

Jährlich werden so ca. 20 Ärzt:innen rekrutiert, die unter anderem im Telenotarztdienst oder auf den NEF eingesetzt werden, Aufgaben im Qualitätsmanagement übernehmen und angehende Notärzt:innen sowie nicht-ärztliches Personal anleiten. Während dieses Jahres sind sie Teil des ärztlichen Teams und tragen die Uniform der Berliner Feuerwehr.

Mehr zur Berliner Feuerwehr: www.berliner-feuerwehr.de

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Die OSTKREUZ-Fotografin Anne Schönharting hat die Oberärztin Dr. med. Renate Boye und ihre Kolleg:innen der Feuerwache Berlin-Treptow während einer Schicht im Notarztdienst begleitet.

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