Rudern war nie bloß Sport
Bereits im Alter von 13 Jahren stieg Ernsting erstmals ins Ruderboot und mit 14 stand für ihn fest, dass er Leistungssportler werden wollte. Zwölf Jahre lang war das Bootshaus sein Lebensmittelpunkt: Training, Wettkämpfe, Freundschaften, Erfolge. 2012 gewann er den U23-Weltmeistertitel im Vierer ohne Steuermann, drei Jahre später folgte die Silbermedaille bei der Ruder-Weltmeisterschaft 2015 im Zweier mit Steuermann. Im Jahr 2016 gehörte er zum erweiterten Olympiakader des legendären Deutschland-Achters, eine Auszeichnung, die nur den Besten vorbehalten ist.
Für Ernsting war Rudern nie bloß Sport, sondern eine Lebensform. „Ich habe dort fast meine gesamte Freizeit verbracht“, erzählt er. „Aber mir war auch bewusst: Eine Sportkarriere hat ein Ablaufdatum. Irgendwann musste klar sein, was danach kommt.“ Diese frühe Erkenntnis machte ihn realistisch – und vielleicht gerade deshalb so erfolgreich.
Eine Entscheidung fürs Leben
Nach dem Abitur stand Ernsting vor einer wichtigen Entscheidung. Über den Rudersport hatte er ein Vollstipendium an einer US-Eliteuniversität in Aussicht – ein
Traum für viele junge Athlet:innen. Doch er entschied sich bewusst anders: der Liebe wegen. „Ich hatte gerade meine heutige Frau kennengelernt, zudem hätte das Stipendium kein komplettes Medizinstudium abgedeckt. Ich dachte mir: „Das ist die perfekte Ausrede, um hierzubleiben“, erzählt er lachend. Zwei Wochen vor Anmeldeschluss schrieb er sich in Berlin an der Charité ein.
Die Faszination für die Medizin entwickelte sich rasch. „Mich fasziniert, wie komplex und zugleich harmonisch unser Körper funktioniert – und dass wir Ärzt:innen darauf, wenn auch begrenzt, Einfluss nehmen können.“ Für ihn enthielt das Studium dieselbe Spannung wie der Sport: das Streben nach Präzision, das Gleichgewicht zwischen Anspannung und Erholung sowie die Suche nach kleinen Perfektionen.

Ruderer Dr. med. Clemens Ernsting
Foto: privat
Rudern ist für Dr. med. Clemens Ernsting nicht nur ein Sport, sondern eine Lebensform.
Vom Hörsaal ins Trainingslager und zurück
Der Spagat zwischen Spitzensport und Studium brachte Ernsting regelmäßig an seine Grenzen. Lehrveranstaltungen an drei Standorten, zweimal tägliches Training und stundenlange Wege quer durch Berlin – oft blieb nur die Nacht zum Lernen. „Ich kam häufig mit nassen Haaren direkt vom Training in den Hörsaal. Einmal war ich so durchnässt, dass ich meine Hose über die Heizung hing und das Seminar in Unterhose absolvierte“, erzählt er mit einem Schmunzeln. „Ich war ständig zerrissen zwischen Bootshaus und Anatomiesaal. Ich wusste, dass ich beiden auf Dauer nicht gerecht werden konnte.“
Aber er gab nicht auf. Stattdessen traf Ernsting eine mutige Entscheidung und legte eine zweijährige Studienpause ein, um sich voll auf die Olympiaqualifikation zu konzentrieren. Er zog nach Dortmund, an den Stützpunkt des Deutschen Rudersports.
Dennoch blieb er intellektuell aktiv und begann seine Dissertation über digitale Gesundheitsanwendungen in der Prävention. 2020 promovierte Ernsting schließlich an der Charité zum Dr. med. „Manchmal braucht es radikale Entscheidungen, um weiterzukommen“, sagt er heute. „Ich wollte herausfinden, wie weit ich gehen kann – im Sport und im Denken.“ Sein Studium war ein Balanceakt zwischen physischem und wissenschaftlichem Höchstanspruch. Diese Erfahrungen haben ihn geprägt. „Das Vertrauen, das ich mir im Training erarbeitet habe, lässt mich auch im Klinikalltag ruhig bleiben“, sagt er. Kolleg:innen bestätigen, dass er in stressigen Momenten eine gewisse Gelassenheit ausstrahlt – eine Qualität, die man auch im Boot braucht, wenn Sekunden über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Dr. med. Clemens Ernsting beim Ultraschall.
Foto: privat
Auch in stressigen Momenten strahlt der Facharzt für Innere Medizin eine gewisse Gelassenheit ausstrahlt aus: Eine Eigenschaft, die er aus dem Boot kennt – wenn Sekunden über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Arzt, Vater, Vereinsmensch
Inzwischen hat sich sein Lebensmittelpunkt verschoben. Aus dem Leistungssportler ist ein Arzt geworden, der seine Weiterbildung zum Internisten in Teilzeit absolviert – bewusst so, dass noch Raum für die Familie bleibt. „Mit der Familiengründung verschieben sich die Prioritäten. Ich sehe vieles entspannter als früher. Wahrscheinlich werde ich keine große Karriere machen, aber das ist vollkommen in Ordnung. Wenn ich mit meinen Kindern einen freien Tag in der Natur verbringe, weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.“
Im ärztlichen Alltag schöpft Ernsting direkt aus seinen sportlichen Erfahrungen. In stressgeprägten Situationen oder Notfällen bewahrt er Ruhe und Übersicht. „Wenn ein Menschenleben auf Messers Schneide steht, verfalle ich nicht in Schockstarre“, betont er. Diese mentale Stärke sei, so sagt er, eines der größten Geschenke seiner sportlichen Jahre.
Dabei definiert er sich nicht nur über Klinik und Familie. Das Rudern ist ihm geblieben, wenn auch in veränderter Form. Heute rudert Ernsting als Ausgleich und genießt die Uferlandschaft am Rhein, ganz ohne Leistungsdruck. Gleichzeitig ist er ehrenamtlich aktiv: Als stellvertretender Vorsitzender des Rudervereins Ingelheim legt er einen besonderen Fokus auf die Jugendarbeit. „Ich habe dem Sport so viel zu verdanken – jetzt bin ich an der Reihe, etwas zurückzugeben.“
Er spricht von Generativität, dem Wunsch, Wissen, Werte und Leidenschaft weiterzugeben. „Ich will nicht nur Technik vermitteln, sondern auch eine Haltung: Fairness, Teamgeist und Vertrauen in die eigenen Stärken. Zu sehen, dass ich damit das Leben junger Menschen positiv beeinflussen kann, ist für mich unglaublich erfüllend.“
Leben in Phasen – und Rat an die nächste Generation
Ernstings Weg zeigt, dass sich Leidenschaft, Vernunft und Fürsorge nicht ausschließen: Er war Weltmeister, Student, Spitzensportler und ist nun Arzt, Teamplayer und Vater. All das gehört zu ihm: das Bootshaus und das Arztzimmer, das Siegespodest und der Stationsflur, das Training und der Spielplatz.
So vieles im Leben hat man nicht in der Hand. Aber wenn das Drumherum stimmt – Menschen, Werte, Haltung – dann kann man etwas daraus machen. Am Ende zählt, wie sehr man durchzieht.
Seine Geschichte erzählt von Ausdauer, Neugier und der Kunst, Prioritäten zu setzen. Sie macht Mut, Lebensphasen bewusst zu gestalten und sich nicht an einmal gewählten Rollen zu klammern. Ernstings Rat an die nächste Generation klingt bedacht und ohne Pathos: Junge Menschen sollten etwas finden, das ihnen echte Freude schenkt – nicht bloß ein Hobby, sondern eine Erfüllung, die sie auch in schweren Zeiten trägt. Sie sollten lernen, Prioritäten zu setzen und sich ein unterstützendes Umfeld zu schaffen: eine Trainingsgruppe, eine Lerngruppe oder ein gutes Team im Beruf. Wenn dieses Umfeld nicht mehr passt, müsse man den Mut haben, es zu ändern.
„So vieles im Leben hat man nicht in der Hand“, sagt Ernsting. „Aber wenn das Drumherum stimmt – Menschen, Werte, Haltung – dann kann man etwas daraus machen. Am Ende zählt, wie sehr man durchzieht.“