Ein wichtiges Thema für die Gesundheitsversorgung
Mit „Gewalt in der Häuslichkeit“ werden alle Formen gewaltvollen Handelns zwischen Menschen beschrieben, die in einer sehr engen Beziehung zueinander stehen und zusammen leben oder gelebt haben. Hierunter fallen körperliche, sexualisierte, emotionale und wirtschaftliche Gewalt, Kontrollverhalten, Nachstellung und auch das Vermeiden oder Unterlassen von Hilfe und Unterstützung. Die Gewalt kann in bestehenden oder bereits aufgelösten Paarbeziehungen erfolgen, sie kann von Eltern(-teilen) gegen ihre Kinder oder von älteren Kindern gegenüber Eltern(-teilen) ausgeübt werden und sie kann sich gegen ältere pflegebedürftige Angehörige oder von diesen gegen Pflegende richten.
Wie häufig Betroffene eine allgemeinmedizinische Praxis aufsuchen, ist aufgrund fehlender Studien und versorgungsbezogener Routinedaten nicht bekannt. Bekannt ist jedoch, dass jede vierte bis fünfte in Deutschland lebende Frau mindestens einmal körperliche oder sexualisierte Gewalt durch einen Beziehungspartner erlebt, dass 64 Prozent von ihnen körperlich verletzt werden und noch mehr unter psychischen Folgen leiden. Etwa 30 Prozent der Betroffenen suchen nach einer schweren Gewalttat eine Einrichtung der Gesundheitsversorgung auf. Gewalt gegen Ältere in der Pflege und im Kinderschutz wird international als große und auch für die hausärztliche Praxis bedeutsame Problematik eingeschätzt, wobei auch hier belastbare Daten fehlen.
Hilfestellung für die Versorgung und Unterstützung
Der Hausärzteverband Berlin-Brandenburg und der Verband medizinischer Fachberufe haben gemeinsam zwei Handlungsleitfäden zum Umgang mit „Gewalt in der Häuslichkeit“ erarbeitet. Ziel ist es, Ärzt:innen und Medizinische Fachangestellte (MFA) im Umgang mit dem Thema und mit betroffenen Patient:innen zu unterstützen und die besonderen Interventions- und Unterstützungschancen in der allgemeinmedizinischen Versorgung zu nutzen. Gerade dort können Gewalterfahrungen in Gesprächen, Symptomen und Beschwerden sichtbar werden und es besteht ein häufig über viele Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis. Die erste Kontaktaufnahme und das aktive Ansprechen des Themas können entscheidend dafür sein, dass Betroffene sich öffnen und Unterstützungsangebote erhalten.
Sie können Betroffene nicht ‚retten‘ – aber Sie können Gewalterfahrungen aktiv ansprechen, zuhören, im Gespräch bleiben und Brücken ins spezialisierte Hilfenetz bauen.
Die Handlungsleitfäden benennen für beide Berufsgruppen die wichtigsten Handlungsschritte in der Versorgung. Sie geben Hinweise, wie Anzeichen von Gewalt erkannt und Patient:innen aktiv angesprochen werden können sowie welche medizinische und psychosoziale Ersthilfe beziehungsweise Erstversorgung geleistet werden kann. Ebenso werden spezialisierte Hilfsangebote benannt, an die Betroffene vermittelt und mit denen kollegial zusammengearbeitet werden kann. Beide Leitfäden sind aufeinander abgestimmt, um eine kooperative Versorgung im Praxisteam zu unterstützen – Aufgabenklärung, Kommunikationswege.
Gesundheitliche Versorgung und Unterstützung von Betroffenen
Die vorliegenden Leitfäden sind im Kontext des Runden Tisches Berlin – Gesundheitsversorgung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt (RTB) entstanden. Beide Verbände sind seit 2019 Mitglieder dieses Gremiums, das sich für einen bewussten und systematischen Umgang des Gesundheitswesens mit häuslicher und sexualisierter Gewalt einsetzt. Eine wichtige Grundlage für die Zusammenarbeit sind die evidenzbasierten Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen“ (WHO 2013) und die gesundheitsbezogenen Vorgaben des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – Istanbul-Konvention, die seit 2018 in Deutschland geltendes Recht ist. Der Runde Tisch Berlin tagt unter dem Vorsitz der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege. Beteiligt sind 31 Organisationen, überwiegend aus dem Gesundheitswesen, aber auch aus dem Kinderschutz, dem Hilfesystem, der Polizei und der Wissenschaft.
Intervention bei Gewalt in der Häuslichkeit
1. Erkennen und Ansprechen
Betroffene sprechen selten von sich aus über erlittene Gewalt, begrüßen es aber, wenn sie sensibel und offen darauf angesprochen werden. Hilfreich ist eine offene und respektvolle Kommunikation, die die Betroffenen nicht unter Druck setzt und Raum für eine mögliche Offenlegung der Gewalt lässt. Bewährt haben sich auch konkrete und klare Fragen sowie der Hinweis, dass das Thema vertraulich ist und keine Informationen an Dritte weitergegeben werden.
2. Erstversorgung
Die medizinische und psychosoziale Erstversorgung orientiert sich an der konkreten Situation und an den Bedürfnissen der Betroffenen. Sie umfasst neben einer ausführlichen Anamnese, gründlichen Untersuchung und gegebenenfalls Behandlung auch Fragen zur akuten Gefährdung – auch mitbetroffener Kinder –, grundlegende Informationen über Handlungsmöglichkeiten und bei Bedarf praktische Unterstützung bei der Kontaktaufnahme etwa zu einer spezialisierten Beratungsstelle. Wichtig ist auch die Information, im Notfall immer die Polizei (110) unter dem Hinweis „Häusliche Gewalt“ zu verständigen.
3. Gerichtsverwertbare Befunddokumentation
Die ausführliche, gerichtsverwertbare Befunddokumentation ist von großer Bedeutung, wenn es zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommt, etwa bei strafrechtlichen Verfahren oder bei der Beantragung von Schutzmaßnahmen. Um Befunde sachlich und für Laien verständlich zu dokumentieren, empfiehlt sich die Verwendung erprobter Vordrucke. Dabei ist auch ein Verständnis der rechtlichen Rahmenbedingungen erforderlich.
4. Selbstfürsorge
Die Versorgung und Unterstützung von Patient:innen, die Gewalt erfahren haben, ist auch für Ärz:innen und MFA belastend. Anonymisierte Fallbesprechungen im kollegialen Rahmen, Supervision oder Balintgruppen können helfen, Abstand zu gewinnen und gesund zu bleiben. Entlastend wirkt vor allem auch ein stabiles Netzwerk im regionalen Hilfesystem.
Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Versorgung
Mit den vorliegenden Handlungsabläufen tragen der Hausärzteverband Berlin-Brandenburg und der Verband medizinischer Fachberufe zur Verbesserung der Versorgung gewaltbetroffener Patient:innen bei. Sie sind ein Baustein, um für Betroffene eine sichere erste Anlaufstelle zu sein – eine erläuternde Broschüre wird die Handlungsabläufe weiter ergänzen. Thematische Fortbildungen ermöglichen darüber hinaus den interdisziplinären Austausch, praktische Übungsmöglichkeiten und fallbezogene Vertiefungen.
Quellen- und Literaturhinweise sind über die Redaktion erhältlich.
Weitere Informationen
Wichtige Telefonnumern bei Gewalt in der Häuslichkeit
- BIG Hotline bei Häuslicher Gewalt:
T + 49 30 611 03 00 - Pflege in Not – Beratung bei Konflikt und Gewalt in der Pflege:
T +49 30 69 59 89 89 - Hotline Kinderschutz:
T +49 30 61 00 66
Handlungsempfehlungen
Empfehlungen für Ärzt:innen zum standardisierten Vorgehen
Empfehlungen für das Praxisteam zum standardisierten Vorgehen
Ergänzende Empfehlungen zur Versorgung von Betroffenen mit Kind(ern)
Handlungsempfehlungen bei Häuslicher Gewalt
Fortbildung
Basisfortbildung „Wenn Partnerschaft verletzend wird …“ der Ärztekammer Berlin und S.I.G.N.A.L. e. V.
Podcast
Podcast mit Anja Thiemann zur Frage, wie Gewalt in der Häuslichkeit erkannt und behandelt werden kann.
Autorinnen
- Patricia Ley, Medizinische Fachangestellte, Vizepräsidentin des Verbands medizinischer Fachberufe
- Anja Thiemann, Hausärztin, Mitglied im Vorstand des Hausärzteverbands Berlin-Brandenburg
- Marion Winterholler, Politikwissenschaftlerin
- Karin Wieners, Gesundheitswissenschaftlerin, Geschäftsstelle des Runden Tischs Berlin | S.I.G.N.A.L. e. V.