Mein Thema: Zwischen den Welten wandeln und Verbindungen schaffen

Was beschäftigt Berliner Ärztinnen und Ärzte in ihrem Lebens- und Arbeitsalltag? „Berliner Ärzt:innen“ hat bei Dr. med. Gunnar Riemer nachgefragt. Der Neurologe hat einen Weg gefunden, seine Berufung mit seinen Interessen und Hobbys zu verbinden.

Gunnar Riemer

Regensburg, Teheran, Hamburg

Wenn Dr. med. Gunnar Riemer zu erzählen beginnt, ändert sich die Atmosphäre im Raum. Es ist, als ob alles auf einen Punkt zuläuft – einen Punkt, der ihm klar vor Augen steht, so scheint es. Der Neurologe formuliert sehr präzise, die Sätze sind druckreif. Er spricht in tiefer Stimmlage, mit einer Sprachmelodie, die etwas über seine Herkunft verrät: Regensburg. Dort ist er in einer Altphilologenfamilie aufgewachsen. Bis er zehn Jahre alt war. Dann zog die Familie nach Teheran, weil sein Vater an der damals größten deutschen Auslandsschule unterrichtete. Das war in den 1970er-Jahren, zu Zeiten des Schahs, als der Iran ein kultureller Schmelztiegel war. Fünf Jahre blieb die Familie. „Als ich mit 15 Jahren zurück nach Deutschland kam, fühlte ich mich zuerst ziemlich fremd“, erinnert sich Riemer. Heute empfindet er diese Erfahrung als Geschenk. „Seitdem fällt es mir leicht, mit anderen Menschen und Kulturen in Kontakt zu kommen.“

Riemer sucht diesen Kontakt aktiv. Das zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. „Mein Notendurchschnitt im Abitur legte nahe, dass ich Medizin studiere.“ Wäre Riemer der Familientradition gefolgt, hätte er ein geisteswissenschaftliches Fach gewählt. Doch an der Medizin faszinierte ihn die Klarheit. „Die Medizin war Neuland für mich und damit per se interessant. Sie bot mir auch die Chance, mich von meinem bisherigen Hintergrund abzunabeln.“

Seine Facharztweiterbildung absolvierte Riemer am Uniklinikum Eppendorf. In Hamburg heiratete er und dort wurden auch die beiden Kinder geboren. Doch obwohl er sein Fachgebiet liebte, zog es Riemer in die Ferne. Warum? Seine Antwort kommt schnell: „Medizin, wie sie in Deutschland betrieben wird, geht mir gegen den Strich.“ Er beschloss, mit seiner Familie nach Norwegen zu gehen. „Ursprünglich wollten wir nur vier Jahre bleiben, daraus wurden dann aber zwölf.“

Die Begegnung mit den Menschen, die ihr Leben unter unglaublichen klimatischen Bedingungen meistern oder die trotz ihres Alters noch etwas Neues ausprobieren, ist sehr inspirierend.

Dr. med. Gunnar Riemer,
Facharzt für Neurologie

Oslo, Berlin, Bretagne

In Oslo arbeitete Riemer in einem Kompetenzzentrum für Seltene Erkrankungen und lernte dabei auch einige grundlegende Unterschiede zum deutschen Gesundheitssystem kennen. „Im norwegischen System ist viel mehr Ruhe als in Deutschland.“ Für ihn ist das vor allem eine Frage der Einstellung. „In der deutschen Medizin glauben die Ärzte, sie wissen, wie es den Kranken geht. In Norwegen wird den Patient:innen viel mehr zugehört.“ Als Riemer 2011 dann nach Berlin zog und anfing, in einer neurologischen Praxis zu arbeiten, die er einige Jahre später übernahm, behielt er einige Gepflogenheiten aus dem Norden bei: Er verzichtete auf den weißen Kittel, nahm sich wann immer möglich Zeit für ausführliche Gespräche mit den Patient:innen und band sie in Behandlungsentscheidungen ein. Auf die Frage, ob er dadurch nicht in Konflikt mit dem Abrechnungssystem gekommen sei, antwortet er: „Mir genügte ein mittleres Einkommen.“

Wichtiger als Geld war ihm immer, genügend Zeit für die Kultur zu haben. In Norwegen fand er die nötige Muße, sich wieder mit Malerei und Literatur zu beschäftigen – so, wie er das von seiner Familie kannte. Eine Brücke zwischen Medizin und Kultur versuchte Riemer, Jahre später in seinem Buch „Kulturkaleidoskop – Impulse der Globalisierung“ zu schlagen. Als Riemer dann vor anderthalb Jahren seine Praxis in Schöneberg abgab, richtete er sich sofort ein Atelier in einem kleinen Dorf in der Bretagne ein. Dort gibt er auch Malkurse: „Das hat etwas Therapeutisches – auch für mich.“ Zu seinen Schüler:innen gehören unter anderem zehn Bewohner:innen eines Altenheims. „Von diesen Menschen lerne ich unheimlich viel“, sagt er und lächelt.

Die Medizin ganz an den Nagel zu hängen und sich nur noch der Malerei zu widmen, kann sich der 1962 Geborene allerdings nicht vorstellen. „Man kommt aus den Denkmustern der Medizin nicht ganz raus.“

Sehnsuchtsort für Dr. med. Gunnar Riemer: Mitternachtssonne über Kirkenes in Norwegen.

... und immer wieder Kirkenes

Und so bleibt Norwegen auch so wichtig für ihn. Das zeigt nicht nur seine Vorliebe für Norwegerpullover. Im nördlichsten Krankenhaus des Landes, in Kirkenes, acht Kilometer von der russischen Grenze entfernt, arbeitet Riemer regelmäßig einige Wochen im Jahr in der neurologischen Poliklinik mit. „Sie haben dort einen Mangel an Neurologen“, sagt er, und man merkt ihm an, wie froh er ist, helfen zu können. „Die Begegnung mit den Menschen, die ihr Leben unter unglaublichen klimatischen Bedingungen meistern oder die trotz ihres Alters noch etwas Neues ausprobieren, ist sehr inspirierend.“

Zwischen den Welten zu wandeln und Dinge zu verbinden, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben, reizt Riemer immer wieder aufs Neue. Das strahlt der Wahlberliner vom ersten Moment an auch aus. Vielleicht hört man ihm auch deshalb so gebannt zu, weil er selbst so ein ausgezeichneter Zuhörer ist.

 

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