Unscheinbares sichtbar machen
„Während meiner Arbeit muss ich extrem fokussiert sein“, sagt Marchand. Wenn ihn die Tätigkeit in seiner Hausarztpraxis eines gelehrt hat, dann das. Seit 21 Jahren ist der Allgemeinmediziner in Charlottenburg niedergelassen, seit neun Jahren führt er die Praxis gemeinsam mit einem Kollegen. Da für jedes Anliegen der Patient:innen nur begrenzt Zeit zur Verfügung steht, ist es wichtig, schnell umschalten zu können. Ganz da zu sein, in jedem Moment. Um möglichst präzise wahrzunehmen, worauf es jeweils ankommt. Diese Fähigkeit braucht Christopher Marchand jedoch nicht nur als Hausarzt, er braucht sie auch in der Kunst.
Hätte er nicht Medizin studiert, wäre er vermutlich Künstler geworden. „Ich habe mich aber nicht so richtig getraut, meinen Lebensunterhalt mit Kunst zu bestreiten. Außerdem mag ich Menschen.“ Deshalb entschied er sich nach dem Zivildienst für die Medizin.
Die Liebe zur Kunst der klassischen Moderne
Marchand wurde 1969 in Mainz geboren und wuchs in einem Elternhaus auf, in dem Kunst eine große Rolle spielte. Die Familie besuchte regelmäßig Ausstellungen und tauschte sich über Kunstwerke aus, die allen gefielen. „Das machen meine Frau und ich auch ganz oft mit unseren vier Söhnen. Durch die verschiedenen Sichtweisen wird Kunst noch bereichernder.“
Sein damaliger Kunstlehrer förderte ihn und weckte seine Liebe zur Kunst der klassischen Moderne – vom Dadaismus bis zum abstrakten Expressionismus. Diese Werke inspirieren ihn bis heute. Starke Kontraste, kräftige Farben, brillante Kompositionen. Es sind charakteristische Bildwerke, in denen es um das Subjektive geht. Um den eigenen Blick auf vermeintliche Realitäten.
„hausbesuche“
„Es geht darum, was ich sehe, wenn ich genauer hinschaue“, erklärt Marchand. Wenn er Hausbesuche macht, schaut der Allgemeinmediziner stets genauer hin. In Graffitis, Schmutz, alten Aufzügen und verschrammten Wänden sieht er mehr als den typischen Berliner Hausflur. „Ich versuche, wachsam zu sein und kleine Kunstwerke im Alltag zu entdecken.“ Dabei kommt es auf den Blickwinkel an. Und auf den Ausschnitt. Seit drei Jahren fotografiert er vor oder nach einem Hausbesuch – im Treppenhaus, im Aufzug, vor der Tür.
Seine Fotos haben alle dasselbe Format: quadratisch. Das ist eine Referenz auf die Polaroids. Bei seinem Fotoprojekt „hausbesuche“ entstehen die Fotos schnell. Marchand verlässt sich dabei vor allem auf seine Intuition und sein geschultes Auge.
Die Wohnungen der Patient:innen sind tabu. „Es geht mir beim Fotografieren nicht um die Menschen, sondern um die Realitäten, von denen sie umgeben sind“, betont Marchand. „Mir geht es ums Fokussieren auf einen Moment. Wenn ich mich auf den Moment wirklich einlasse, sehe ich plötzlich mehr.“ Die Fotos sind für ihn ein Ausdruck der Wertschätzung für das Unscheinbare.
„hausbesuche“
Bei Hausbesuchen sind es oft die vermeintlich kleinen Dinge, die den entscheidenden Unterschied machen: ein Blick, ein Wort, eine Geste. „Das versuche ich auch jeden Tag an meine Patient:innen in der Praxis weiterzugeben. Die Suche nach dem Schönen lohnt sich immer. Das ist auch ein Sehtraining: Worauf fokussiere ich mich? Da gibt es eine Wahlfreiheit.“
Marchand bedauert, dass er die Hausbesuche erst seit Kurzem zum Fotografieren nutzt. Seitdem gelingt es ihm leichter, seine beiden Leidenschaften zu verbinden: Medizin und Kunst. Die Fotos sind für ihn wie ein Tagebuch, in dem er jedes Motiv einer Patientengeschichte zuordnen kann. Nun beginnt sich auch die Öffentlichkeit dafür zu interessieren. So ist bereits im Stadtmagazin tip Berlin eine Fotostrecke erschienen, bei Radio Eins lief ein Interview. Marchand träumt von einer Ausstellung mit großformatigen Abzügen. „Ich möchte wissen, wie die Aufnahmen bei anderen ankommen. Wie wirken sie, wenn sie als Sammlung gezeigt werden – und wie, wenn man den Kontext zunächst nicht kennt?“
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