Langer Atem trotz Ermüdungserscheinungen
Erst im Mai 2023 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den zu Beginn des Jahres 2020 ausgerufenen Corona-Gesundheitsnotstand offiziell aufgehoben. Aber gibt es nicht schon jetzt leichte Ermüdungserscheinungen beim Gedanken an die „Aufarbeitung“ der COVID-19-Pandemie der Jahre 2020 bis 2023? Und das, obwohl Gründlichkeit und Sorgfalt in der Datenerhebung sowie analytischer Abstand für solide wissenschaftliche Arbeit eigentlich kennzeichnend sein sollten? An diese Tugenden erinnerte die Sozialwissenschaftlerin Clara Jacobi, Wissenschaftliche Koordinatorin am Disruption and Societal Change Center (TUDiSC) der TU Dresden, beim Symposium „Erfolge, Fehler, Folgen – Überlegungen zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie“ der Ärztekammer Berlin am 2. Dezember 2023, mit den Worten: „Eigentlich wäre es schön, uns in zehn Jahren wiederzutreffen!“
Prof. Dr. med. Matthias David, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Gynäkologie auf dem Campus Virchow-Klinikum der Charité – Universitätsmedizin Berlin, wünschte sich auf dem von ihm mit organisierten Symposium sogar einen noch längeren Atem: Untersuchungen von Rekruten des Jahres 1940 legten den Verdacht nahe, dass sich Folgen der Spanischen Grippe 1918 noch Jahrzehnte später manifestierten. Man müsse in der Forschung folglich in Zeiträumen von 20, 30 oder sogar 40 Jahren denken. Bisher lägen in seinem Fachgebiet allenfalls vorläufige, methodisch zudem vielfach mängelbehaftete Ergebnisse vor.
So seien nach dem Motto „Jetzt reiten wir die Welle“ während der Corona-Pandemie viele Daten zu schnell publiziert worden. David mahnte Sorgfalt und einen langen Atem an. „Klar ist: Wir müssen analysieren. Wir tun das, weil wir es können, und weil wir in Zukunft besser werden wollen“, hatte auch Kammerpräsident PD Dr. med. Peter Bobbert zu Beginn der Veranstaltung die Zielsetzung vorgegeben.
Kontinuierliche, „hochfrequente“ Beobachtung nötig
Für diese Analyse hatte die Psychologin und Gesundheitswissenschaftlerin Elvira Mauz vom Mental Health Surveillance Team am Robert Koch-Institut (RKI) beim Symposium Daten zur psychischen Gesundheit der Bevölkerung anzubieten. Schnell habe sich während der Pandemie herausgestellt, dass man neben der kontinuierlichen auch eine „hochfrequente“ Beobachtung brauche. „Diese Struktur steht jetzt, es wäre schön gewesen, wenn wir sie schon zu Beginn gehabt hätten“, so Mauz. „Unsere Primärdaten deuten darauf hin, dass es den Menschen schlechter geht“, sagte sie zum Vergleich zwischen dem letzten Quartal 2019 und Oktober 2023. Vor allem Angstsymptome haben den Befragungen zufolge zugenommen, die eigene psychische Gesundheit schätzen die Menschen als schlechter ein. Dass daran neben COVID-19 auch die derzeitige weltpolitische Lage ihren Anteil haben könnte, räumte die Psychologin in der Diskussion ein. „Wir sprechen von multiplen Krisen.“
Auch die Daten zu Kindern und Jugendlichen zeigen, wie Clara Jacobi anschließend ausführte: „Angstsymptome sind ein großes Problem.“ In Deutschland, für das die COPSY-Studie der Forschungsgruppe Child Public Health sehr gute Daten liefere, berichteten inzwischen 30 Prozent der Kinder von Ängsten, vor der Pandemie waren es 15 Prozent. Neben der Angst, in der Schule oder bei der Ausbildung etwas zu verpassen oder sich selbst zu infizieren, sei auch die Befürchtung groß gewesen, anderen zu schaden: „Jedes sechste Kind hatte Angst, jemand anderen anzustecken.“ Jacobi verschwieg aber auch nicht, dass vor allem der erste Lockdown positive Auswirkungen auf viele Kinder hatte. „Weniger Schule kann eine Entlastung für Kinder und Jugendliche sein.“ Auf die Dauer habe sich das aber verändert, zudem sei für solche Effekte ein stabiles soziales Umfeld wichtig. „Vieles von dem, was wir gelernt haben, war nur eine Bestätigung dessen, was wir hätten im Blick haben sollen“, resümierte Jacobi.
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Angestauter Unmut
Dass auf einigen Feldern bewährte Erkenntnisse nicht berücksichtigt worden seien, bemängelte auch Hedwig François-Kettner, ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit und Mitglied der Gruppe um den Internisten Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, die während der Pandemie mehrere kritische Thesenpapiere veröffentlicht hatte. „Da sind Dinge, die dürfen nicht noch einmal vorkommen“, sagte die ehemalige Pflegedirektorin der Charité mit Blick auf die Erschwernisse für Besuche in Alten- und Pflegeeinrichtungen und die soziale Isolation der Bewohner:innen dort unter dem Beifall vieler Teilnehmenden. Offensichtlich hatte sich bei einigen ärztlichen Kolleg:innen während der Pandemie-Zeit Unmut angestaut.
Andererseits, und auch das wurde in der kontroversen, teils hitzigen Diskussion, die Dr. med. Susanne von der Heydt, Mitglied im Vorstand der Ärztekammer Berlin, souverän moderierte, deutlich, ging es gerade bei diesen Maßnahmen auch darum, hochbetagte und multimorbide Menschen vor einem bisher nicht verbreiteten Virus zu schützen – das im März 2020 für erschreckende Bilder aus dem italienischen Bergamo gesorgt hatte. Die Spannbreite all dieser Erfahrungen der verschiedenen Berufsgruppen – von der Pflegekraft über die Niedergelassenen bis zu den Intensivmediziner:innen – gelte es auszuhalten, mahnte Dr. med. Ellis Huber, Vorstandsmitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin e. V. und des Berufsverbandes der Präventologen e. V.
„Das Personal ist ausgebrannt“
„Viele Ressourcen fehlten uns zu Beginn noch“, erinnerte sich in seinem Vortrag Prof. Dr. med. Jörg Weimann, Chefarzt der Anästhesie und Intensivmedizin am Sankt Gertrauden-Krankenhaus. „In unserem Krankenhaus haben damals Ehrenamtliche Stoffmasken genäht.“ Auf organisatorischer Ebene habe es in Berlin aber früh eine Vernetzung der Kliniken gegeben, in denen die besonders schwer erkrankten COVID-19-Patient:innen behandelt wurden. „Unter SAVE-Berlin@COVID-19 gab es täglich eine Videokonferenz aller intensivmedizinischen Leiter, die COVID-Patient:innen behandelten.“ Wenig später habe man sich auch überregional vernetzt und Patient:innen, wenn notwendig verlegt. Über das heikle Thema Triage habe man früh gesprochen, und schon Ende März 2020 gab es dazu Stellungnahmen der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und des Deutschen Ethikrates. In Deutschland habe es dann keinen solchen Fall gegeben. Weimanns – durchaus positive – Erfahrung aus der Pandemie-Zeit: „Wir müssen uns kommunikativ vernetzen.“ Der Intensivmediziner, der sich in der Ärztekammer Berlin berufspolitisch engagiert, berichtete aber auch über eine beunruhigende Folge der für sein Fachgebiet besonders bewegten Corona-Zeit: „Das Personal ist ausgebrannt.“
Andere Erfahrungen, gleiche Lehren
Für den Gynäkologen Matthias David stellte sich dieselbe Zeit zumindest zu Beginn beruflich deutlich anders dar. Mit seinem – mit einem leichten Augenzwinkern vorgebrachten – Satz: „Es war eine meiner schönsten Zeiten, ich bin überpünktlich nach Hause gekommen – wir waren nicht gefragt“, sprach er auch für einige andere ärztliche Berufsgruppen. Selbstverständlich gab es auch zu dieser Zeit stationäre Behandlungen wegen akuter gynäkologischer oder geburtshilflicher Beschwerden. Der geringeren Inanspruchnahme der Notfallambulanzen der Kliniken stand ein prozentual höherer Anteil von Patientinnen gegenüber, die nach ihrer Vorstellung dort gleich stationär aufgenommen wurden. Gelernt haben die Gynäkolog:innen, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 während der Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko für Früh- oder Totgeburten, Präeklampsie oder vorzeitigen Blasensprung mit sich bringt. Als eine der Lehren sieht David zudem, dass der zeitweilige Ausschluss von Begleitpersonen bei der Entbindung umfassend evaluiert werden muss: „Werden Maßnahmen in der klinischen Praxis eingeführt, die vom geltenden evidenzbasierten Vorgehen abweichen, müssen sie überwacht, begleitet und bewertet werden, um – unbeabsichtigte – negative iatrogene Effekte zu erkennen und zu minimieren.“
Der Statistiker und Gesundheitsökonom Thomas Czihal, stellvertretender Vorstandsvorsitzender am Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung, berichtete von ungewöhnlichen Erfahrungen anderer Art: „Normalerweise beschäftigen wir uns mit dem Honorarverteilungsmaßstab (HVM), plötzlich ging es um die Beschaffung von Schutzkleidung und deren Verteilung.“ Czihal machte deutlich, wie wichtig die ambulante Medizin in der Pandemie war: „19 von 20 COVID-19-Fällen wurden von Niedergelassenen behandelt, bis Ende Juni 2022 wurden 35,2 Millionen Tests bei symptomatischen Patienten abgerechnet, die Rufnummer 116 117 wurde zeitweilig als Corona-Hotline genutzt.“ Und nicht zu vergessen das Impfen: „50 Prozent aller Impfdosen wurden in Vertragsarztpraxen verabreicht.“
Rück- und Ausblick
Die enorme Erfolgsgeschichte der Impfstoffentwicklung griff auch Kammerpräsident Peter Bobbert in seinem engagierten Schlusswort auf und erinnerte zugleich an die anfängliche Unwissenheit im Umgang mit einem neuartigen Virus. „Wir dürfen niemals vergessen, wie wir uns im März 2020 gefühlt haben. Aus diesem Nicht-Vergessen und der sachlichen Analyse heraus werden wir besser.“ Ein starkes Argument dafür, dass im Abstand einiger Jahre in der Ärztekammer Berlin eine weitere Veranstaltung zu dem Thema stattfinden sollte.