Berlin ist groß. Berlin ist laut. Berlin ist dreckig.
Aber Berlin ist auch attraktiv, vielseitig und innovativ – und für viele ein pulsierender Magnet: Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg lebten zum Jahreswechsel fast 3,9 Millionen Menschen in der Hauptstadt – ein Plus von 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Weltweit ist ein Trend zur Urbanisierung zu beobachten. Leben derzeit etwa 55 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, werden es 2050 bereits 70 Prozent sein.
Eine Herausforderung, nicht nur für Stadtplaner. Studien zeigen: Städterinnen und Städter haben im Vergleich zur Landbevölkerung ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Das Depressionsrisiko ist etwa anderthalbmal so hoch und auch die Gefahr, eine Angst- oder Suchterkrankung zu entwickeln, ist in Städten deutlich größer. Schizophrenien treten sogar doppelt so häufig auf, wobei das Risiko sowohl mit der Größe der Stadt, in der man aufgewachsen ist, als auch mit der Anzahl der Lebensjahre, die man als Heranwachsender dort verbracht hat, steigt.
„Wenn es stimmt, dass es immer mehr Menschen in die Städte zieht, müssen wir besser heute als morgen verstehen, wie wir diese Lebensräume gestalten können, damit sie unserer Psyche zuträglich sind“, sagt Prof. Dr. med. Mazda Adli. Der Psychiater und Stressforscher ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité am Campus Mitte. Vor etwa zehn Jahren hat er die Neurourbanistik ins Leben gerufen – eine neue Forschungsrichtung, die Medizin, Psychologie, Neurowissenschaften, Sozial- und Kognitionswissenschaften mit Architektur, Städteplanung und anderen stadtforschenden Disziplinen vereint, um ganzheitliche Ansätze zur Förderung der psychischen Gesundheit in der Metropole zu finden.
Der Ansatz reicht von wissenschaftlichen Studien im Rahmen der Berlin University Alliance über die Erarbeitung von Public Mental Health-Strategien bis hin zu Bürgergesprächen und Politikberatung. Flankiert wird das Ganze von der „Charta der Neurourbanistik“, die neun wichtige Attribute einer Metropole herausstellt, etwa Dichte, Vielfalt, Beziehungen oder Kultur. „Neurourbanistik beschreibt einen Schulterschluss zwischen Stadt- und Gesundheitsforschung“, bringt es Adli auf den Punkt.
Landkarte der Emotionen
Im Projekt „Deine Emotionale Stadt“ erforschen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit 2022, welche Empfindungen die Bürgerinnen und Bürger mit konkreten Straßen, Plätzen, Kiezen und Parks verbinden und was genau diese Orte dann ausmachen. Sind sie grün oder grau? Sind sie ruhig oder lebendig? Wie ist die Aufenthaltsqualität? Gibt es öffentliche Räume? Wie ist das nachbarschaftliche Miteinander?
Deine Emotionale Stadt
Erste Zwischenauswertungen zeigen, dass die Hauptstadt eben nicht nur anstrengend ist, sondern auch viele Wohlfühlorte hat – und zwar deutlich mehr als angenommen. „Unsere Daten aus Berlin zeigen, dass räumliche Enge und ein fehlendes Gefühl von Zugehörigkeit zu Stresstreibern in der Stadt werden, während Ästhetik in der Stadt einen messbaren positiven Einfluss auf das emotionale Wohlbefinden haben kann. Einen solchen Effekt kannten wir bisher vor allem von Grünflächen“, so die Neurowissenschaftlerin Dr. Shadi Bagherzadeh Azbari vom Forum Neurourbanistik in einem Interview mit dem Futurium – einem der strategischen Projektpartner. „Diese Erkenntnis ist für uns neu und spannend.“
Die Emotionsdaten sammelt das „bürgerwissenschaftliche“ Projekt über die Urban Mind-App, die sich die Berlinerinnen und Berliner kostenfrei in den gängigen App-Stores herunterladen können. Eine Woche lang werden die freiwilligen Stressforscher:innen dreimal am Tag zum persönlichen Befinden befragt; mittlerweile gibt es die App in sieben Sprachen. Der jeweilige Standort wird automatisch abgerufen. So können die Forschenden in Echtzeit beobachten, wie sich die Menschen fühlen und wie ihre städtische Umgebung diese Gefühle beeinflusst. Bis April 2025 wurden bereits 23.000 Datenpunkte von 2.000 Personen gesammelt. Die Studie soll mindestens noch bis zum Jahresende laufen. Am Ende soll eine „Landkarte der Emotionen“ entstehen, aus der sich Erkenntnisse für Städte im Allgemeinen ableiten lassen.
Doch wie lässt sich herausfinden, ob die gemeldete Gefühlslage mit dem aktuellen Standort zusammenhängt oder mit dem ganz privaten neuen Liebesglück? Bei der App-Befragung werden die Nutzerinnen und Nutzer deshalb gebeten, ihre Emotionen einzuordnen. Trotzdem fließen persönliche Befindlichkeiten immer mit ein. Das sei aber auch gut so, erklärt Stressforscher Adli, schließlich sei es keine Studie unter Laborbedingungen. „Wir wollen ja auch tatsächlich das ganze echte Leben mit erfassen. Entscheidend ist, dass möglichst viele Menschen mitmachen und ihre Erfahrungen mit uns teilen, dadurch lösen sich solche Einflussfaktoren dann auch statistisch besser auf.“
Dichte und Isolation können krank machen
Die Hypothese der Studie lautet, dass Dichtestress – zu viele Menschen an einem Ort – und Isolationsstress zwei wesentliche Krankmacher in der Stadt sind. Mit Isolationsstress ist ein Gefühl von mangelnder Zugehörigkeit oder Einsamkeit gemeint. Anders als das Alleinsein ist Einsamkeit im wissenschaftlichen Kontext ein belastender Stressfaktor und hängt stark vom persönlichen Erleben ab.
Hier bestätigen die vorläufigen Berliner Daten das, was bereits aus anderen Studien bekannt ist: Die höchsten Einsamkeitswerte finden sich in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen. Danach fallen die Werte, bevor sie ab einem Alter von etwa 75 Jahren wieder ansteigen. Psychiater Adli erklärt, dass es oft die großen Übergangssituationen im Leben sind, die das Gefühl der Einsamkeit entstehen lassen: Bei jungen Menschen könne das etwa die Ablösung vom Elternhaus sein, der Umzug an einen neuen Ort oder das Wegbrechen des alten Freundeskreises, bevor ein neuer gefunden ist. Bei älteren Menschen seien etwa die Berentung, gesundheitliche Alltagseinschränkungen oder der Verlust von nahestehenden Menschen typische Auslöser.
Grün, so ein zentrales Ergebnis der Arbeit, ist eben nicht nur schön, sondern geht auch unter die Haut und sogar ins Gehirn.
Dass eine grüne Umgebung gut für die Seele ist, wurde bereits in zahlreichen Studien gezeigt. Geringere Depressions- und Suizidraten und auch epigenetische Effekte wurden nachgewiesen. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) konnte das Team um Adli vor etwa drei Jahren zeigen, dass der prozentuale Anteil von Grünflächen in einem Radius von 1,5 km um den Wohnort mit der Stressantwort des Gehirns korreliert. Das heißt: Je mehr Bäume, Sträucher und Wiesen die Umgebung eines gesunden Menschen prägen, desto aktiver ist die Stress- und Emotionsregulation in frontalen Hirnarealen – unter Stressbedingungen im Scanner. „Grün, so ein zentrales Ergebnis der Arbeit, ist eben nicht nur schön, sondern geht auch unter die Haut und sogar ins Gehirn“, fasst der Psychiater zusammen.
Beziehungen zählen, auch die von Straßen
Die fMRT-Studie fand aber noch etwas anderes heraus, das zuvor so noch nicht gezeigt wurde. Wenn Straßen gut miteinander verbunden sind – etwa über Kreuzungen – dann ist das Salienznetzwerk ruhiger. Das neuronale Netzwerk ist eine Art eingebautes Alarmsystem im Gehirn, das ständig im Standby-Modus läuft. Unter stressigen Bedingungen wird es lauter. Warum ausgerechnet Straßenbeziehungen einen beruhigenden Einfluss auf dieses menschliche Alarmsystem haben, darüber kann Forschungsleiter Adli erstmal nur spekulieren. Vielleicht, weil naheliegende Ziele dann besser zu Fuß erreichbar sind und damit die Wahrscheinlichkeit für soziale Begegnungen und Zusammenhalt steigt oder weil die Aufenthaltsqualität im Freien besser ist. „Aber das sind zunächst nur Interpretationen.“
Man darf gespannt sein, ob sich diese Erkenntnis im Projekt „Deine Emotionale Stadt“ bestätigt und welche Überraschungen noch zutage treten. Mit den Forschungsergebnissen wird sich auch der neu gegründete Einstein-Zirkel „Urban Mental Health Strategy“ befassen. Eine Gruppe von 20 Personen – darunter die Berliner Senatsbaudirektorin Prof. Petra Kahlfeldt – und 20 wechselnde Gäste werden bis 2027 gemeinsam an einer Strategie zur Förderung der psychischen Gesundheit in Städten arbeiten. Weitere Forschungsergebnisse, etwa von internationalen Partnern, sollen ebenso in die Strategie einfließen wie transdisziplinäre Erfahrungen und Praxiswissen. Was sich jetzt schon sagen lässt: Ein paar Bäume mehr werden nicht ausreichen, um eine Stadt wie Berlin lebens- und liebenswerter zu machen und ihre Bewohnerinnen und Bewohner vor Depressionen & Co. zu schützen. Neurourbanistik ist wesentlich komplexer.