Die Verleihung des Berliner Gesundheitspreiseses am 21. Juni 2023 war in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes. Pandemiebedingt musste die alle zwei Jahre stattfindende Preisverleihung beim letzten Mal pausieren. Umso größer war die Freude der Preisträger:innen, Juror:innen und Laudator:innen sowie der über 130 Gäste, sich nach nunmehr vier Jahren wieder im Atrium des AOK-Bundesverbandes in Berlin zur feierlichen Preisübergabe zusammenzufinden.
In besonderer Weise spürbar war, wie sehr das Thema „Gesundheit gerecht gestalten“ die Teilnehmenden bewegte. In den Redebeiträgen während der Verleihung und in den Gesprächen danach wurde deutlich, dass in Deutschland immer noch viele Menschen daran scheitern, die Gesundheitsversorgung zu erhalten, die sie benötigen – häufig, weil die soziale Komponente der Erkrankungen nicht berücksichtigt wird. Dies sei, so war man sich einig, ein Zustand, der nicht länger tragbar ist. Der Grundgedanke des diesjährigen Berliner Gesundheitspreises, Projekte auszuzeichnen, die gesundheitliche Versorgung mit sozialer Unterstützung vernetzen, wurde daher durchgehend gelobt.
Nicht zuletzt war die diesjährige Verleihung auch deshalb etwas Besonderes, weil nach Angaben der Jury so viele und gute Wettbewerbsbeiträge eingegangen waren, dass gleich zwei Projekte mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurden und zwei weitere einen Sonderpreis erhielten. Dotiert waren die ersten Preise mit einem Preisgeld von jeweils 20.000 Euro; die Sonderpreise erhielten jeweils 5.000 Euro.
Gesundheit stärker im sozialen Kontext betrachten
Durch den von sommerlicher Hitze geprägten Abend führte in gewohnter Launigkeit der Moderator Volker Wieprecht. Nach einem Filmeinspieler, bei dem wichtige Akteur:innen aus Politik und Gesundheitswesen zu Wort kamen, eröffneten Jens Martin Hoyer, Stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, und PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin, die Veranstaltung.
Dass Krankenkassen und diejenigen, die täglich in der praktischen Gesundheitsversorgung arbeiten, beim Thema „Gesundheit gerecht gestalten“ zusammenstehen, sei besonders wichtig, so Bobbert. „Wir sehen es in unserer täglichen Arbeit: Man kann noch so gut therapieren – wenn die sozialen Umstände nicht stimmen, wird eine Therapie irgendwann nicht mehr zum gewünschten Erfolg führen.“ Daher sei der Vernetzungsgedanke so wichtig, ergänzte Hoyer. „Wir müssen die soziale Komponente stärker einbeziehen und Gesundheit und Soziales zusammendenken.“
Preisträger:innen
Wie das funktionieren kann, zeigten alle prämierten Projekte, so auch open.med München des Vereins Ärzte der Welt e. V., das einen der beiden ersten Preise erhielt. Schätzungen zufolge leben in Deutschland mehrere hunderttausend Menschen ohne ausreichende Krankenversicherung – darunter Wohnungslose, aber auch Selbstständige, EU-Bürger:innen ohne sozialversicherungspflichtiges Anstellungsverhältnis oder Personen aus Drittstaaten, die keinen aufenthaltsrechtlichen Status haben. Das Projekt open.med München bietet für diese Menschen eine Anlaufstelle. Ehrenamtlich tätige Ärzt:innen versorgen die Betroffenen in der Münchner Innenstadt sowie in einem Behandlungsbus, der regelmäßig verschiedene Standorte in der Stadt anfährt. Das Team kümmert sich dabei auch um die sozialen Probleme der Patient:innen und begleitet diese beispielsweise bei Behördengängen oder unterstützt sie bei Anträgen. Zudem versuchen die Helfer:innen, die betroffenen Menschen wieder in das Regelsystem zu integrieren.
„Eine angemessene medizinische Versorgung ist ein Menschenrecht – unabhängig von der Herkunft und den sozialen Verhältnissen“, erklärte Bobbert in seiner Laudatio. Dieses Recht werde in Deutschland jedoch nicht jedem Menschen gewährt. Umso wichtiger seien Projekte wie open.med, die sich um Menschen kümmern, die durch das Versicherungssystem gefallen sind. Stellvertretend für alle Mitarbeitenden von open.med München nahmen Dr. med. Marianne Stix, Allgemeinmedizinerin und bei open.med ehrenamtlich tätige Ärztin, sowie die Projektreferentin Annemarie Weber den Berliner Gesundheitspreis entgegen.
Wir sehen es in unserer täglichen Arbeit: Man kann noch so gut therapieren – wenn die sozialen Umstände nicht stimmen, wird eine Therapie irgendwann nicht mehr zum gewünschten Erfolg führen.
Dort ansetzen, wo die Menschen hingehen
In Berlin-Lichtenberg leben besonders viele ältere und alleinstehende Menschen. Der Bezirk ist von hoher Arbeitslosigkeit und Armut geprägt. Die Folge ist eine Häufung von sozial bedingten Erkrankungen. Für viele Menschen ist ihre Hausarztpraxis die wichtigste Anlaufstelle. Der Verein soziale Gesundheit e. V. hat daher ein Projekt entwickelt, bei dem qualifizierte Sozialberater:innen in die ärztlichen Praxen gehen, um niederschwellig Hilfe anzubieten und bei der Überschneidung von gesundheitlichen und sozialen Problemen gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
„Man setzt dort an, wo die Menschen hingehen – in der Arztpraxis“, erklärte Jana Bauer, Bundeskoordinatorin des Gesunde Städte-Netzwerkes, ihrer Laudatio. Indem die Haus- oder Kinderärzt:innen ihre Patient:innen in kritischen Lebenslagen direkt an die Sozialberater:innen vermitteln können, werden vorhandene Ressourcen effektiv genutzt, so Bauer. Die arztpraxisinterne Sozialberatung in Berlin-Lichtenberg erhielt einen Sonderpreis. Entgegen nahmen ihn Dr. Martyna Voß , Projektleiterin des Vereins „soziale Gesundheit e. V.“, sowie Martin Schaefer, Bezirksbürgermeister in Lichtenberg.
Wie interprofessionelle Zusammenarbeit in benachteiligten und strukturschwachen Stadtteilen gelingen kann, zeigen Stadtteilgesundheitszentren in Berlin und Hamburg. Sie erhielten den nächsten ersten Preis des Abends. Ziel der Zentren ist es, medizinische Versorgung und soziales Engagement zu verbinden und neben der Behandlung von Erkrankungen auch die Lebensbedingungen der Patient:innen im Blick zu behalten. Verschiedene Gesundheits- und Sozialfachkräfte arbeiten hier Hand in Hand. Zudem sind die Zentren in ihrem sozialen Umfeld vernetzt und suchen aktiv den Kontakt zu den Menschen in der Umgebung.
Die Laudatio hielt Sabine Dittmar MdB, Parlamentarische Staatsekretärin beim Bundesminister für Gesundheit. Das Motto „Gesundheit gerecht gestalten“ sei aktueller denn je, so Dittmar. Gesundheit sei leider viel zu oft eine soziale Frage und viele Menschen hätten Schwierigkeiten beim Zugang zur Regelversorgung. „Es wäre gut, wenn es noch viel mehr solcher Stadtteilgesundheitszentren gäbe“, so Dittmar. Den Preis überreichte sie Dr. med. Patricia Hänel, Ärztin und Koordinatorin des Stadtteilgesundheitszentrums Neukölln, Gesundheitskollektiv Berlin e. V., und Milli Schröder, Projektkoordinatorin in der Poliklinik Hamburg-Veddel, Gruppe für Stadtteilgesundheit und Verhältnisprävention e. V.
Impressionen
Politische Debatte eröffnet
Den zweiten Sonderpreis erhielt das Netzwerk „SGB-übergreifende familienorientierte Versorgung für von psychischen und Suchterkrankungen betroffene Familien“. Grundgedanke des Netzwerkes ist die Erkenntnis, dass bei einer psychischen oder Suchterkrankung der Eltern die Kinder immer auch stark belastet seien, oft aber nicht die notwendige Hilfe erhalten. Gerade für sie sei es wichtig, dass Hilfen angeboten werden, die über die Grenzen der Sozialgesetzbücher (SGB) ineinandergreifen. So könnten beispielsweise die medizinische Versorgung mit der Jugendhilfe vernetzt werden, so dass in Krisen schnell und unbürokratische Interventionen möglich seien.
Das bundesweit agierende Kooperationsnetzwerk hat bereits einige Leuchtturmprojekte entwickelt. Ziel ist es jedoch, flächendeckend und auf verschiedene Erkrankungen und Problemlagen bezogen eine SGB-übergreifende Zusammenarbeit der Akteur:innen zu ermöglichen. Maria Klein-Schmeink MdB, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen Bundestagsfraktion, erklärte in ihrer Laudatio: „Das Projekt verdeutlicht, dass wir nicht in Silos denken dürfen, sondern dass wir übergreifende Angebote brauchen.“ Man könne den Preisträger:innen dankbar sein, dass sie mit ihrem Engagement auch eine politische Debatte eröffnet hätten.
Überreicht wurde der Preis an Claudia Langholz, Geschäftsführerin für die Bereiche Kinder- und Jugendhilfe, Kindertagesstätten und Sozialpsychiatrie der Diakonie Schleswig-Holstein, und PD Dr. med. Rieke Oelkers-Ax, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Leiterin des Referats Frauen- und Männergesundheit und Familienpsychiatrie/-psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN).
Die Preisverleihung endete mit der Verabschiedung von Monika Schneider, Referentin für Politik des AOK-Bundesverbandes, die den Berliner Gesundheitspreis seit seiner Einführung im Jahr 1995 maßgeblich organisiert hat. Mit der diesjährigen Verleihung verabschiedete sie sich nach 50 Jahren aus dem Arbeitsleben.
Weitere Informationen zu den prämierten Projekten sowie die Aufzeichnung der Veranstaltung finden Sie unter www.aok-bv.de/engagement/berliner_gesundheitspreis.
Berliner Gesundheitspreis
Der bundesweite „Berliner Gesundheitspreis“ wird seit 1995 alle zwei Jahre vom AOK-Bundesverband und der Ärztekammer Berlin ausgeschrieben.
Der Innovationswettbewerb widmet sich jeweils einem ausgewählten Thema, das eine besondere Bedeutung für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung hat. Er soll dazu beitragen, vorbildliche Initiativen und Projekte bekannt zu machen und schnell in die Praxis zu bringen.