Gelingt die Trendwende oder muss das deutsche Gesundheitssystem erst an die Wand fahren, unkten Abgeordnete am Rande der Veranstaltung in der ehemaligen Bergbaumetropole, die schon vor Jahrzehnten einen wuchtigen Verlierer zu beklagen hatte – die deutsche Stahlindustrie. Der günstigeren Produktion aus Asien hatte man irgendwann nichts mehr entgegenzusetzen. Während sich die Stadt Essen in der Folge als grünes Dienstleistungszentrum neu erfunden hat, bemüht sich das ortsansässige Traditionsunternehmen aktuell, mit klimaneutralem Stahl den Turnaround zu schaffen. Auch das Gesundheitssystem versucht sich seit Jahren an einer zukunftsfähigen Transformation. Kann diese gelingen? Und wie können die Ärzt:innen mehr am Wandel partizipieren und diesen mitgestalten? Fragen, die der Deutsche Ärztetag vom 16. bis 19. Mai 2023 zu beantworten suchte.
Kooperation im Gesundheitswesen
Mittlerweile ist es Tradition, der jüngeren Generation den Vortritt zu lassen. So fand im Vorfeld des Deutschen Ärztetages erneut das Dialogforum für junge Ärztinnen und Ärzte statt. Ging es im vergangenen Jahr noch um die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems, widmete sich die diesjährige Veranstaltung der interprofessionellen Zusammenarbeit. Die Leitfrage der Diskussion war, wie ein abgestimmtes und kooperatives Zusammenwirken im stationären und im ambulanten Bereich gelingen kann. Die junge Ärztin Melissa Camara Romero, Co-Vorsitzende des Ausschusses „Junge Ärztinnen und Ärzte, ärztliche Arbeitsbedingungen“ der Ärztekammer Nordrhein, brachte es im Zuge der Diskussionsrunde auf den Punkt: „Wir haben nie ausgelernt. Wir können immer von erfahrenen Kollegen aller Gesundheitsberufe lernen – selbst von Patienten.“ Man müsse im Dialog bleiben und auch Aufgaben abgeben können. Dafür bräuchte es aber Vorbilder aus allen Gesundheitsberufen, die es in den Krankenhäusern viel zu selten gäbe. Dass es den jungen Ärzt:innen zudem um mehr Wertschätzung für ihre Arbeit geht, machte schließlich ein Teilnehmer deutlich, indem er erklärte, dass er die Bezeichnung „Assistenzarzt“ als despektierlich empfinde. Immerhin seien er und seine Kolleg:innen bereits approbiert.
Im Ergebnis war klar, dass sich junge Ärzt:innen eine interprofessionelle und teamorientierte Patientenversorgung mit anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen wünschen. In Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels, der zunehmenden Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit könne man den Herausforderungen gar nicht mehr anders begegnen. Wichtig sei dabei eine gute Kommunikation, eine funktionierende Weiterbildung sowie eine klare Aufgaben- und Verantwortungsteilung.
Sehr geehrter Herr Minister Lauterbach, ich halte es für einen schweren politischen Fehler, dass Sie dieses Engagement Ihrer eigenen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen als Lobbyismus diskreditieren, statt dieses wertvolle Erfahrungswissen für Ihre Arbeit zu nutzen.
Eröffnungs- und Bewerbungsrede in einem
An der Eröffnungsrede zum Deutschen Ärztetag von Dr. med. (I) Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), stimmte am darauffolgenden Tag nahezu alles: War sie doch pointiert, klar im Aufbau und an mancher Stelle sichtlich aus dem Herzen vieler Abgeordneter gesprochen. So adressierte Reinhardt den anwesenden Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. med. Karl Lauterbach nicht nur direkt, sondern sehr deutlich. Die klaren Worte passten zu den unverputzten Stahlträgern im Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen, welche die Balkone tragen – eine hübsche Reminiszenz an die Stadt der Stahlbarone. Anschließend wurde von Abgeordneten gemutmaßt, Reinhardt habe bereits seine Bewerbungsrede für die Wiederwahl als Präsident der Bundesärztekammer gehalten. Als ein weiteres Indiz hierfür konnte die Tatsache gedeutet werden, dass er sich thematisch noch mehr als sonst um die Sympathien sowohl aus dem stationären als auch dem ambulanten Lager bemühte. Die Anwesenden schienen zumindest angetan und goutierten den Vortrag mit stehenden Ovationen – was es wohl noch nie gegeben hat, wenn man dem späteren Wortbeitrag eines Abgeordneten Glauben schenken durfte.
Reinhardt scheute keine Emotionalisierung, als er die Bundesregierung nachdrücklich aufforderte, von ihren Plänen zu einer Cannabis-Legalisierung Abstand zu nehmen und stattdessen konsequent auf eine umfassende Suchtprävention zu setzen. Gemessen an dem Beifall, den er für diese Aussage erhielt, stimmte ihm darin die Mehrheit der anwesenden Ärzt:innen zu und die Presse nahm die deutliche Positionierung dankbar auf.
Weiterhin forderte er mehr ärztliche Partizipation und prangerte nahezu groteske Fristsetzungen durch das Bundesgesundheitsministerium, etwa bei der Aufforderung zu Stellungnahmen für Gesetzesentwürfe, an. So sei beispielsweise Anfang März ein Entwurf für das Infektionsschutzgesetz nachts um eins in der Bundesärztekammer eingegangen – die Frist zur Stellungnahme endete bereits am Vormittag desselben Tages. Die Notlösung aus der Corona-Krise sei zum Normalfall geworden. Dabei machten politische Partizipation und politische Meinungsbildung eine lebendige und starke Demokratie aus, klagte Reinhardt angelehnt an ein Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt.
Ein jedes Gesetz bedürfe dringend eines Praxischecks, fuhr er fort und konstatierte direkt an den Bundesgesundheitsminister gerichtet: „Sehr geehrter Herr Minister Lauterbach, ich halte es für einen schweren politischen Fehler, dass Sie dieses Engagement Ihrer eigenen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen als Lobbyismus diskreditieren, statt dieses wertvolle Erfahrungswissen für Ihre Arbeit zu nutzen.“ Allen sei bewusst, dass etwa die Finanzen der Krankenkassen konsolidiert werden müssen, allerdings nicht zulasten der ärztlichen Praxen, sondern mit mehr Steuergeldern und einem reduzierten Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel.
Gefeierter Solist findet Partner zum Duett
Danach betrat ein sichtlich geknickter Bundesgesundheitsminister die Bühne. Ob sein insgesamt recht fahriger Auftritt dem Jetlag seiner vorangegangenen Reise nach Japan oder den Attacken von Reinhardt geschuldet war, lässt sich nur spekulieren. Wie im vergangenen Jahr versuchte Lauterbach, die Ärzt:innenschaft mit einer wortreichen Umarmung für sich zu gewinnen, und unterstrich, wie sehr er die ärztliche Selbstverwaltung wertschätze. Allerdings zeigte sich, dass die Geduld der Ärzt:innenschaft aufgebraucht ist. Verhaltener Applaus und sich frühzeitig leerende Reihen in der Philharmonie ließen auf großen Unmut bei den Abgeordneten schließen.
Lauterbach bemühte sich um einen Ausgleich und versprach, die Krankenhausreform zügig voranzutreiben. Zudem versuchte er, die Gemüter zu besänftigen, indem er Einsicht angesichts des Fachkräftemangels zeigte und erklärte: „Wir brauchen mehr ärztliches und pflegerisches Personal, sonst werden wir die Herausforderungen, die vor uns stehen, nicht bewältigen können.“ Daher teile er die Einschätzung des Präsidenten, dass es mehr Studierende der Humanmedizin geben müsse. Er setze sich dafür ein, dass die Zahl der Medizinstudierenden um 5.000 pro Jahr erhöht werde.
Zum Ende seiner Rede signalisierte Lauterbach schließlich, dass er an einem Dialog interessiert sei und dass er dafür die Expertise aller Akteur:innen des Gesundheitswesens bräuchte. Reinhardt zeigte sich einverstanden. Hier versuchten zwei Solisten, doch noch ein Duett zu singen.
Das diesjährige „Parlament der Ärzteschaft“ in Bildern
„Der Patient ist kein Kunde. Eine ärztliche Leistung ist etwas anderes, als Speiseeis zu verkaufen“
Was tut man in Zeiten des Umbruchs? Man besinnt sich auf die eigenen Kernkompetenzen und Stärken. So war für die Selbstvergewisserung der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland Peter Müller, Richter des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht und ehemaliger saarländischer Ministerpräsident, eingeladen worden, einen Vortrag zum Wert der ärztlichen Freiberuflichkeit zu halten.
Zunächst führte Dr. med. Günther Matheis, Vizepräsident der Bundesärztekammer, in das Thema ein. Freiheit und Verantwortung seien für ihn wichtig, weil beide Begriffe in ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit die Essenz der ärztlichen Profession darstellten. Verantwortung könne nur tragen, wer die Freiheit hat, sein Wissen auf individuelle Patient:innen anwenden zu können. An seine Kolleg:innen gerichtet mahnte Matheis, es dürfe ihnen nur um die Patient:innen und das Wohl der Gesellschaft gehen. Er unterstrich: „Die Gemeinwohlorientierung der ärztlichen Profession ist nicht verhandelbar.“ Angesichts der zunehmenden Kommerzialisierung des Gesundheitswesens sei das besonders wichtig. Für ihn sei aber auch klar, dass eine Staatsmedizin mit Freiberuflichkeit nicht zu vereinbaren sei. Und an den Bundesgesundheitsminister gerichtet: „Wer die Ärztekammern als Lobbyisten verkennt, der hat unser Gesundheitssystem und die Rolle der Selbstverwaltung einfach nicht verstanden.“ Angesichts dessen sei klar: „Wir müssen uns zurückbesinnen, was die Ärzteschaft ausmacht.“
Peter Müller schloss mit seiner Rede nahtlos an und hob hervor, dass die Freiberuflichkeit nicht nur eine wertvolle ärztliche Ressource, sondern unabdingbar für ein gutes Gesundheitssystem sei. Sie stehe aber durch Ökonomisierung und Bürokratisierung unter einem starken Druck. Die besondere Vertrauensbeziehung zwischen Leistungserbringer und -empfänger unterscheide die Freiberuflichkeit von einer normalen gewerblichen Tätigkeit. Typisch sei die Asymmetrie beim Wissensstand. Deshalb bedürfe es einer besonderen Verantwortung vonseiten der Ärztinnen und Ärzte. „Der Patient ist kein Kunde. Eine ärztliche Leistung ist etwas anderes, als Speiseeis zu verkaufen“, so der ehemalige Ministerpräsident. Eine Gleichsetzung von Freiberuflichkeit und gewerblicher Tätigkeit sei für ihn absurd. Zwar brauche Freiberuflichkeit auch einen Ordnungsrahmen, allerdings einen sehr spezifischen.
Wer die Ärztekammern als Lobbyisten verkennt, der hat unser Gesundheitssystem und die Rolle der Selbstverwaltung einfach nicht verstanden.
Ärztliches Handeln am Wohl der Patient:innen ausrichten
„Wenn das Konzept der Freiberuflichkeit erhalten werden soll, gibt es Grenzen der Kommerzialisierung“, fuhr Müller fort. Freiberuflichkeit sei ungeeignet zur Erprobung marktradikaler Ansätze. Bonusvereinbarungen seien mit Therapiefreiheit und dem Wohl von Patient:innen unvereinbar. Mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip, also dem Vorrang privater vor staatlicher Verantwortung, betonte Müller, dass die ärztliche Selbstverwaltung gelebte Subsidiarität sei. Ärztliche Selbstverwaltung und Freiberuflichkeit seien am Ende siamesische Zwillinge, das eine könne ohne das andere nicht überleben. „Daher geht es nicht an, Ärztekammern auf den bloßen Status einer Lobbyorganisation zu reduzieren“, kritisierte er und forderte ein Ende der Bürokratisierung sowie der staatlichen Regelungswut. „Wir brauchen mehr Selbstverwaltung und Selbstverantwortlichkeit. Dies führt am Ende zu mehr Menschlichkeit“, resümierte Müller unter dem Applaus der Abgeordneten.
Anschließend verabschiedete der Deutsche Ärztetag die „Essener Resolution für Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“. Diese sieht vor, dass Ärztinnen und Ärzte ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten ausrichten – unabhängig von kommerziellen Erwartungshaltungen Dritter. Zudem wurde eine systematische und strukturelle Einbindung der Ärzt:innenschaft bei allen gesundheitspolitischen Prozessen, Reformvorhaben und Gesetzesverfahren gefordert. Nur so sei eine grundlegende medizinisch-wissenschaftlich fundierte sowie patientenzentrierte Neuausrichtung der Gesundheitsversorgung zu schaffen. Außerdem sollen junge Ärzt:innen über die Grundzüge der Freiberuflichkeit informiert werden, denn auch dies sei eine Aufgabe des Kammersystems.
Der freie Beruf werde immer stärker attackiert, bestätigte auch PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin, die genannten Aspekte. Daher halte er es für besonders wichtig, die Bedeutung der Freiberuflichkeit immer wieder zu betonen. Er sei mit Blick auf die jungen Kolleg:innen oftmals besorgt: „Viele wissen gar nicht, was Freiberuflichkeit ist“, mahnte er. „Wir brauchen neue Wege der Kommunikation und der Teilhabe – auch das liegt in der Verantwortung unserer Freiberuflichkeit.“
Mehr Kompetenz für ein gesundes Leben von Kindern und Jugendlichen
Wer mehr weiß, lebt gesünder. Studien zeigten, so Reinhardt in seiner Einleitung zum nächsten Tagesordnungspunkt „Gesundheitsbildung: Vom Wissen zum Handeln“, je höher der Bildungsgrad, desto besser ist auch die Gesundheit. Daher sei es von entscheidender Bedeutung, das Gesundheitswissen und die daraus resultierende Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen zu erhöhen. Wie dies gelingen kann und was bereits an deutschen Kitas und Schulen unternommen wird, diskutierte der Deutsche Ärztetag im Folgenden.
Grundlage für die Aussprache waren die Referate von Dorothee Feller, Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie von Prof. Dr. Orkan Okan, Experte für Gesundheitskompetenz an der TU München. Man sehe mit Sorge auf die verbreiteten gesundheitlichen Probleme, die in der jungen Generation – etwa im Zusammenhang mit Bewegungsmangel, Übergewicht, Drogenkonsum und psychischen Störungen – bestehen, hieß es in einer mit überwältigender Mehrheit angenommenen Beschlussvorlage des Vorstandes der Bundesärztekammer.
Kitas und Schulen könnten dazu beitragen, Fehlentwicklungen in der Gesundheit der Bevölkerung entgegenzutreten, erklärte Reinhardt, und der Deutsche Ärztetag sprach sich für die Entwicklung einer länderübergreifend abgestimmten Strategie aus, mit der die Förderung von Gesundheitskompetenz in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen nachhaltig verankert werden soll. Konkret wurde gefordert, die Kultusministerkonferenz solle sich dafür einsetzen, dass die Entwicklung eines nachhaltigen Gesamtkonzeptes auf den Weg gebracht wird. Dies solle im Sinne des Leitfadens „Die gesundheitskompetente Schule“ geschehen, der unter aktiver Beteiligung mehrerer Ärztekammern erstellt wurde.
Gesundheitskompetenz solle fachübergreifend über verschiedene Klassenstufen hinweg vermittelt werden, so Reinhardt. Dafür brauche es konkrete Unterrichtsinhalte zur Gesundheitsbildung – sowohl in den Grundschulen als auch in den weiterführenden Schulen. Auch Wissen über Erste-Hilfe-Maßnahmen sollte fächerübergreifend gelehrt werden. Weiterhin plädierte der Deutsche Ärztetag für eine kostenfreie und gesunde Schulverpflegung sowie für Bewegungsangebote in der Pause. Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, ein Werbeverbot für gesundheitsschädliche Nahrungs- und Genussmittel überall dort einzuführen, wo Kinder medial adressiert würden. Krankenkassen sollen Ernährungsberatungen und entsprechende Bildungsangebote niederschwellig anbieten. Zudem müsse die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen bereits in der frühen Kindheit aufgebaut werden, damit sie einen gesunden Umgang mit Social Media und Co. lernen könnten.
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Wahlen in Essen
Vermutlich war nicht vorgesehen, dass die Wahlen zum neuen Vorstand der Bundesärztekammer den gesamten Donnerstag andauerten. Die Abgeordneten waren dazu aufgerufen, mit ihrer Wahl fünf Posten für die kommenden vier Jahre neu zu besetzen. Dazu sehen die Satzung und Geschäftsordnung des Deutschen Ärztetages keine digitale Stimmabgabe vor. Vielmehr ist von einer geheimen und schriftlichen Wahl die Rede. Allerdings, so mutmaßten einige Abgeordnete, hätte eine digitale Stimmabgabe die Wahlgänge vermutlich wesentlich beschleunigt.
Im Ergebnis wurde Dr. med. (I) Klaus Reinhardt von den Abgeordneten erneut zum Präsidenten der Bundesärztekammer gewählt. Er gewann die Wahl im ersten Wahlgang gegen seine Herausforderin Dr. med. Susanne Johna, Bundesvorsitzende des Marburger Bundes, mit einem denkbar knappen Ergebnis von 125 zu 122 Stimmen (bei zwei ungültigen Stimmen und einer Enthaltung). Johna konnte sich im Anschluss noch erfolgreich auf einen der beiden Vizepräsident:innen-Posten wählen lassen. Den dritten Sitz im Präsidium verteidigte Dr. med. Ellen Lundershausen, die somit eine weitere Legislatur im Amt verbleibt.
Als weitere Ärzt:innen im Vorstand der Bundesärztekammer wurden Christine Neumann-Grutzeck und Dr. med. Andreas Botzlar gewählt. Dr. med. Regine Held, Mitglied der Delegiertenversammlung der Ärztekammer Berlin, wurde in ihrem Amt im Vorstand der Bundesärztekammer nicht bestätigt.
Weiterbildung, Klimawandel, Digitalisierung – Sachstandsberichte
Gewohnt unterhaltsam informierten am Freitagmorgen Dr. med. Johannes Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, und Prof. Dr. med. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, über den Stand hinsichtlich der Umsetzung der 2018 verabschiedeten ärztlichen (Muster-)Weiterbildungsordnung (MWBO). Sie zogen eine positive Bilanz: Mittlerweile sei die MWBO in allen Landesärztekammern in Landesrecht umgesetzt.
Im Folgenden beschloss der Deutsche Ärztetag, die Inhalte der Zusatz-Weiterbildung Physikalische Therapie als Bestandteil der Facharzt-Weiterbildung für Physikalische und Rehabilitative Medizin zu definieren. In den Gremien der Bundesärztekammer solle zudem die Aufnahme des 80-stündigen Curriculums zur Psychosomatischen Grundversorgung in die MWBO der Bundesärztekammer zur Fachärztin und zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin geprüft werden.
Abgelehnt wurden hingegen die Prüfung einer Verankerung einer sechsmonatigen Pflicht zur Weiterbildung im ambulanten allgemeinpädiatrischen Bereich in der Facharztweiterbildung Kinder- und Jugendmedizin in der MWBO sowie die Prüfung einer Aufnahme eines Facharztes für Notfallmedizin.
„Wir freuen uns sehr, dass das Thema Klimawandel hier auf dem Deutschen Ärztetag angekommen ist“, leitete anschließend PD Dr. med. Peter Bobbert den Sachstandsbericht zu „Klimawandel und Gesundheit – ganz konkret“ ein. Er betonte, wir bräuchten ein klimaneutrales, aber auch ein resilientes Gesundheitssystem. Klimaschutz müsse sich in Aus-, Weiter- und Fortbildung der Ärzt:innenschaft wiederfinden. Erste Schritte seien hier über die Fortbildungscurricula erreicht worden. „Wir dürfen nicht nur Forderungen formulieren, sondern müssen selbst handeln“, so Bobbert, „Klimaschutz wird auch von uns gemacht“. Beunruhigend sei, dass Deutschland bisher noch kein hitzeresilientes Gesundheitssystem habe. Ein entsprechender Antrag für verstärkte verpflichtende Anstrengungen zur Implementierung flächendeckender Hitzenotfallpläne in Deutschland wurde von den Abgeordneten beschlossen.
Die Digitalpolitik der vergangenen 20 Jahre für das Gesundheitswesen in Deutschland ist gescheitert!
„Man kann nicht heute Apfelbäume pflanzen und schon im nächsten Jahr die Früchte ernten“, soll Berthold Beitz, ehemaliger Vorsitzender des Kuratoriums der gemeinnützigen Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, einmal gesagt haben. Bezogen auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen kann man festhalten, dass die Geduld hinsichtlich der noch immer ausbleibenden Ernte mittlerweile aufgebraucht ist. „Die Digitalpolitik der vergangenen 20 Jahre für das Gesundheitswesen in Deutschland ist gescheitert!“, war somit auch das ernüchternde Fazit von Bobbert in seinem Sachstandsbericht aus der Arbeitsgemeinschaft der Bundesärztekammer. Mit Blick auf das europäische Ausland sei der Status quo hinsichtlich der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens inakzeptabel. In vielen Ländern gebe es beispielsweise die ePA und das eRezept bereits seit über 20 Jahren.
Die angekündigte Ausrichtung der Digitalisierungsstrategie des Bundesgesundheitsministeriums auf die Verbesserung der Versorgungsprozesse, nutzerorientierte Technologien und benutzerfreundliche Anwendungen sei begrüßenswert. Auf die Worte müssten nun allerdings Taten folgen, forderte Bobbert. In der Digitalstrategie der Bundesregierung sei zu erkennen, dass sie den Fokus wieder auf den Nutzen für die Patient:innen lege. „Da steht der Mensch im Mittelpunkt dieser Digitalstrategie und das kann man nur befürworten“, fasste er zusammen.
Anträge und Beschlüsse des 127. Deutschen Ärztetages 2023 in Essen
Bugwelle von Anträgen
Nahezu jedes Jahr schiebt der Deutsche Ärztetag eine eindrucksvolle Bugwelle an Anträgen vor sich her. So auch dieses Mal. Am Freitag waren von den insgesamt 281 eingereichten Anträgen noch über 200 offen. Der letzte Sitzungstag war folglich von einem „Abstimmungsmarathon“ geprägt. An insgesamt 154 Anträgen war die Ärztekammer Berlin als Antragstellerin, Mitantragstellerin oder Unterstützerin beteiligt. Entweder durch die Abgeordneten selbst oder durch Peter Bobbert und/oder Regine Held als Vorstandsmitglieder der Bundesärztekammer. Von diesen 154 Anträgen wurden 64 Anträge angenommen, 80 an den Vorstand überwiesen, 7 zurückgezogen und 3 abgelehnt. Am Ende des Tages mussten 165 Anträge an den Vorstand überwiesen werden.
An diesem Vorgehen gab es vonseiten der Abgeordneten viel Kritik. So wurde unter anderem gefordert, zukünftig weniger umfangreiche Tagesordnungspunkte zu setzen, die Anträge mehr in den Mittelpunkt zu rücken, die thematische Dopplung von Anträgen möglichst zu verhindern, eine Redezeitbegrenzung einzuführen oder für mehr Disziplin beim Abstimmen zu sorgen. Ein Beschlussantrag vom Vorstand der Bundesärztekammer zur Änderung der Geschäftsordnung der Deutschen Ärztetage, in dem unter anderem eine fristgerechte Einreichung von Anträgen geregelt werden sollte, wurde allerdings zurückgezogen.
Es lohnt sich
Rückblickend hat der 127. Deutsche Ärztetag gezeigt, dass eine – gelungene – Transformation des Gesundheitswesens nicht ausgeschlossen ist. Auch wenn es ein zäher und mühseliger Prozess ist, verdeutlichen die vielen Impulse aus der Ärzt:innenschaft, dass es an guten Ideen nicht mangelt. Dementsprechend lautet das klare Signal aus Essen: Es lohnt sich, die Ärzt:innenschaft politisch mehr partizipieren und mitwirken zu lassen.
Berliner Anträge
Aus Berliner Perspektive ist der von allen Berliner Abgeordneten eingebrachte Antrag „Assistierter Suizid als ärztliche Aufgabe – Änderung des § 1 Abs. 2 MBO-Ä“ hervorzuheben. Darin wird die Bundesärztekammer aufgefordert, in ihren Gremien das Ziehen einer berufsethisch begründeten Grenze bei der ärztlichen Suizidassistenz zu prüfen. Dazu haben die Abgeordneten eine Ergänzung der ärztlichen (Muster-)Berufsordnung vorgeschlagen. Dabei solle einerseits betont werden, dass die Mitwirkung bei der Selbsttötung von Menschen grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe ist. Andererseits solle festgeschrieben werden, dass sie im Einzelfall bei schwerer oder unerträglicher Erkrankung nach wohlabgewogener Gewissensentscheidung zulässig ist.
Ein weiterer von allen Berliner Abgeordneten eingebrachter Antrag zur „Einführung der Widerspruchslösung in der Organspende“ wurde an den Vorstand überwiesen.