Gewalt in der Pflege hat viele Gesichter

Das Problem ist allgegenwärtig, kommt jedoch selten ans Tageslicht: Gewalt in der Pflege. Das Berliner „Netzwerk gewaltfreie Pflege“ ist angetreten, um pflegebedürftige Menschen besser zu schützen. An Ärztinnen und Ärzte appelliert die Koordinatorin des Netzwerks, wachsam zu bleiben und im Zweifel lieber einmal mehr ein Netzwerkmitglied einzuschalten.

Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke, MPH
Interview mit
Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke, MPH

Koordinatorin Sichere Pflege, Polizei Berlin, LKA 123 - Delikte an Schutzbefohlenen

Foto: Christian Marschler

Freitagnachmittag in Berlin: Die 90-jährige, demenzkranke Frau L. wird mit einem Nasenbeinbruch in eine Rettungsstelle eingeliefert, nachdem eine Nachbarin den Notruf gewählt hat. Aufgrund der „auffälligen Umstände“ alarmiert die Feuerwehr die Polizei. Schnell gerät die Tochter unter Verdacht, die ihre Mutter eigentlich immer gut pflegt. Aber manchmal betrinke sie sich und dann kann ihr laut Aussage der Nachbarin „auch mal die Hand ausrutschen“. Ob die Tatverdächtige tatsächlich schuldig ist, kann die Polizei letztlich nicht ermitteln, weil es keine Zeug:innen gibt. Über die Beratungsstelle „Pflege in Not“ gelingt es schließlich, einen Pflegstützpunkt hinzuziehen, der die Pflegesituation begleitet und die Suche nach einer geeigneten Pflegeeinrichtung für die alte Dame unterstützt.

Das Beispiel ist kein Einzelfall. Gewalt in der Pflege kommt in allen erdenklichen Konstellationen vor: stationär, ambulant, mit und ohne Pflegedienst. Und sie hat viele Gesichter: Schlagen, grobes Anfassen, aber auch Anbrüllen, Beleidigungen, freiheitsentziehende Maßnahmen, Vernachlässigung oder sexuelle Übergriffe gelten als Gewaltdelikte an Schutzbefohlenen, wenn dadurch ein gesundheitlicher Schaden entsteht. Das Forschungsprojekt PaRis (Pflege als Risiko) von der Deutschen Hochschule der Polizei, dem LKA Berlin und der damaligen Senatsverwaltung für Gesundheit und Pflege, das zwischen 2019 und 2021 rund 350 Fälle von Gewalt in der Pflege untersuchte, zeigte: Einzelne Fälle gingen auch tödlich aus.

Gewalt in der Pflege kommt jedoch nur selten ans Tageslicht. Denn schwer pflegebedürftige oder demente Menschen können meist nicht für sich sprechen. Andere schweigen, weil sie Angst vor einer Eskalation der Gewalt haben oder um ihre Pflege und Versorgung fürchten. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wurden im Jahr 2021 in Berlin 33 „Misshandlungen von Schutzbefohlenen Senioren“ registriert. Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke vom LKA-Fachkommissariat 123 „Delikte an Schutzbefohlenen“ bestätigt, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. „Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus“, sagt sie.

Auffällig ist, dass viele Anzeigen aus dem stationären Bereich stammen, dabei werden 80 Prozent der Menschen zu Hause gepflegt. Die Diskrepanz liegt laut der LKA-Mitarbeiterin darin begründet, dass das Abhängigkeitsverhältnis im häuslichen Bereich so groß ist. „Die Hemmschwelle, jemanden aus dem meist familiären Umfeld anzuzeigen, ist dort sehr hoch“, sagt sie. Außerdem erfahre außerhalb der Wohnung niemand davon.

Der wichtigste Punkt ist, dass Pflegende, aber auch Pflegebedürftige rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen, und zwar bevor das Pflegeumfeld komplett überfordert ist.

Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke,
Koordinatorin Sichere Pflege, Polizei Berlin, LKA 123 - Delikte an Schutzbefohlenen

Studien liefern Anhaltspunkte über das Ausmaß der Gewalt

Dass das Problem größer ist als offiziell erfasst, legen Studien des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) nahe. In einer bundesweiten Untersuchung aus dem Jahr 2018 hatten 40 Prozent der pflegenden Angehörigen angegeben, Gewalt gegenüber der oder dem Pflegebedürftigen angewandt zu haben. In einer aktuellen Untersuchung zur Gewalt in Pflegeeinrichtungen gaben fast 70 Prozent der befragten Leitungspersonen an, sich an mindestens einen Vorfall von Gewalt gegen die Bewohner:innen der Einrichtung im zurückliegenden Jahr zu erinnern. Die Studie zeigte außerdem, dass nicht nur Mitarbeitende, sondern auch Pflegebedürftige selbst zu Täter:innen werden können.

Für Graffmann-Weschke ist das nichts Neues. Die Pflegeexpertin und Ärztin arbeitet mit Kriminalbeamtinnen und -beamten bei Gewaltdelikten im Pflegekontext zusammen und hat in kürzester Zeit „schon viel gesehen“. Auch den Fall von Frau L. hat sie begleitet. Rund ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbringt sie mit Ermittlungen, die restliche Zeit ist sie mit dem Aufbau des „Netzwerks gewaltfreie Pflege“ beschäftigt.

Das Berliner Netzwerk ging aus dem Projekt PaRis hervor und will dafür sorgen, dass mehr Gewaltdelikte in der Pflege aufgedeckt und Geschädigte künftig besser geschützt werden können. Seit dem Startschuss im September 2021 haben sich fast 30 Organisationen angeschlossen, darunter auch Anlaufstellen, die im Verdachtsfall angerufen werden können: Neben der Polizei Berlin sind das unter anderem der Medizinische Dienst Berlin-Brandenburg, Pflege in Not, der Berliner Krisendienst und die Heimaufsicht Berlin.

Interview mit Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke vom „Netzwerk gewaltfreie Pflege“

Beatrice Hamberger: Frau Dr. Graffmann-Weschke, was kann das „Netzwerk gewaltfreie Pflege“ tun, um Pflegebedürftige vor physischen und psychischen Gewalttaten zu schützen?

Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke: Betroffene können wir nur schützen, wenn wir von den Vorfällen erfahren. Also müssen wir alle Akteur:innen und die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren. Und wir brauchen übergreifende Strukturen, in denen die Behörden und Vertreter:innen der Gesundheitsberufe eng zusammenarbeiten. Jedes unserer Netzwerkmitglieder hat eine bestimmte Zuständigkeit. Mit den Pflegestützpunkten haben wir einen ganz wichtigen Partner, um Überforderungen in Pflegesituationen durch eine gute Versorgungsplanung zu verhindern. Gemeinsam decken wir auch Lücken und Bedarfe auf. Zum Beispiel fehlt in Berlin noch eine Unterbringungsmöglichkeit für Pflegebedürftige in akuten Notsituationen. Kinder werden in solchen Fällen vom Jugendamt in Obhut genommen. So wie wir gesetzliche Regelungen zum Schutz von Kindern haben, brauchen wir auch ein Gewaltschutzgesetz oder ein ähnliches Konstrukt zum Schutz von älteren und pflegebedürftigen Menschen. An all dem sind wir dran. Aber wir beraten auch präventiv und kümmern uns um Einzelfälle.

Warum werden Menschen überhaupt gewalttätig gegenüber vulnerablen Gruppen? Was wissen Sie über die Täter:innen?

Überforderung spielt eine große Rolle, ist aber nicht der einzige Grund. Wir wissen, dass eigene Gewalterfahrungen ein Risikofaktor sind, und wenn häusliche Gewalt ohnehin schon gelebt wurde, setzt sie sich auch in einer Pflegesituation fort. Suchtprobleme und Alkohol begünstigen ebenfalls Gewalt. In Pflegeheimen ist es auch der Personalmangel. Eine strafrechtliche Verfolgung ist oft schwer, wenn Zeug:innen und Beweise fehlen.

Sie gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, insbesondere im häuslichen Bereich. Wie kann denn dort Gewalt verhindert werden?

Der wichtigste Punkt ist, dass Pflegende, aber auch Pflegebedürftige rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen, und zwar bevor das Pflegeumfeld komplett überfordert ist. Oftmals lässt sich eine Eskalation dadurch vermeiden, dass einer der Berliner Pflegestützpunkte hinzugezogen wird. Die können über Unterstützungsmöglichkeiten beraten. Pflegekurse können hilfreich sein, um Wissen zur Pflege zu erlernen. Hausärztinnen und Hausärzte haben hier eine ganz wichtige Lotsenfunktion. Unser Rat: Nehmen Sie die ganze Familie in den Blick, auch beteiligte Kinder.

An welchem Punkt sollte die Ärztin oder der Arzt die Polizei einschalten?

Nicht jeder blauen Fleck oder Kratzer entsteht durch Misshandlung. Aber wenn es offensichtlich um Gewalt geht und man das Gefühl hat, die oder der Geschädigte muss geschützt werden, dann sollte man sich bei der Polizei melden. Ist die Lage weniger eindeutig, muss man sich überlegen, wer die richtigen Ansprechpersonen sein könnten. Das kann erst einmal die Heimleitung oder eben die Familie sein. In unserem Flyer „Gewalt an Pflegebedürftigen“ haben wir relevante Berliner Anlaufstellen zusammengestellt, die entsprechende Hilfe bieten. Ärztinnen und Ärzte möchte ich an dieser Stelle ermutigen, wachsam zu bleiben und im Zweifel lieber einmal mehr von den Angeboten Gebrauch zu machen.

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