Zur Sprache kommen

Die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation entscheidet über gesellschaftliche Teilhabe und Bildungschancen. Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung früh im Blick zu haben, ohne dabei aus Besorgnis überzureagieren, ist für Eltern wie Ärzt:innen eine Gratwanderung. Ein Berliner Online-Tool soll in Zukunft dabei helfen, Unterstützung bei der frühkindlichen Sprachentwicklung spielerisch zu gestalten und den Rat von Expert:innen einzuholen.

Ein Kleinkind mit einer EEG-Haube.

In der Forschung zur Sprachentwicklung kommen auch Methoden wie die EEG-Haube zum Einsatz.

Was hat das Baby nur? Drückt sein kleiner Bauch, quält ihn womöglich schon der erste, noch vor dem Durchbruch stehende Zahn, oder ist das Kleine einfach nur müde? Wie oft wünschten sich Mütter und Väter von Säuglingen, dass ihre kleinen Lieblinge eindeutiger mitteilen könnten, was ihnen fehlt, dass sie endlich sprechen könnten.

Mit einem bis eineinhalb Jahren gibt es bei den meisten Kleinkindern einen hoffnungsvollen Anfang: Sie artikulieren erste Wörter – zur Freude der Eltern meist „Mama“ oder „Papa“, oft aber auch „Ball“. Die frühkindliche Sprachentwicklung beginnt jedoch weit früher: Schon Ungeborene hören ihre Mutter und die ihr nahestehenden Menschen sprechen. Schon Babys filtern Sprachlaute aus der Fülle von Geräuschen heraus, die sie hören, sie lernen nicht allein die Laute, sondern auch die Betonungen ihrer Muttersprache, sie werden besonders aufmerksam, wenn ihr Name genannt wird. Vor allem aber sind sie von Beginn an Wesen, die nach Bindung und Kommunikation streben. Bei dieser Vorbereitung ist es kein Wunder, dass die meisten von ihnen mit knapp zwei Jahren schon an die hundert Wörter aktiv einsetzen und einfache Sätze bilden können. Verstehen können sie weit mehr.

Wie gut Heranwachsende Sprache verstehen und wie gut sie sich selbst mit Sprache verständlich machen können, das entscheidet ganz wesentlich über ihren Erfolg im weiteren Lebenslauf. Angefangen mit der Schule: Sprachliche Kommunikation sei das „Herzstück des Unterrichts“ in allen Fächern, so formuliert es die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V. erstellte interdisziplinäre Leitlinie „Therapie von Sprachentwicklungsstörungen (SES)“ aus dem Jahr 2022. Einschränkungen, die sich hier zeigen, führen unweigerlich zu Folgeproblemen und verringern die Chancen zur Teilhabe. „Geringe sprachliche Fähigkeiten korrelieren mit niedrigen Bildungsabschlüssen.“

In der Leitlinie wird eine Prävalenz von 9,9 Prozent angenommen. In der Praxis haben bereits 24,1 Prozent der sechsjährigen Jungen und 15,2 Prozent der gleichaltrigen Mädchen Erfahrungen mit einer Form der Sprachtherapie gemacht. Bei den Berliner Einschulungsuntersuchungen wurden einem Bericht der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung aus dem Jahr 2017 zufolge bei mindestens 28 Prozent der Kinder Sprachdefizite festgestellt. Dabei handelt es sich naturgemäß nicht um präzise Diagnosen. Selbst hinter dem genaueren Begriff „Sprachentwicklungsstörung“ verbirgt sich ein ganzes Spektrum von Auffälligkeiten, von der falschen Aussprache des Traktors als „Kraktor“ bis hin zu selektivem Mutismus, der in der überwiegenden Mehrheit der Fälle mit Angststörungen einhergeht und bei den Kindern etwa in der Schule konsequent stumm bleiben.

In unserer Forschungsgruppe widmen wir uns der genaueren Beschreibung von Störungsbildern mit dem Ziel, bessere Behandlungen dafür zu finden.

Prof. Dr. Claudia Männel,
Leiterin der Forschungsgruppe „Frühkindliche Sprachentwicklung“ an der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité – Universitätsmedizin auf dem Campus Virchow-Klinikum

Beschreibung von Störungsbildern

Die Daten der Schuleingangsuntersuchungen wurden vor der Corona-Pandemie erhoben. „Wir wissen, dass die Pandemie für die Entwicklung von Kindern aus sozial schwächeren Familien besonders fatal war. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Zahlen derzeit noch höher sind“, sagt die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. phil. Claudia Männel, Leiterin der Forschungsgruppe „Frühkindliche Sprachentwicklung“ an der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité – Universitätsmedizin auf dem Campus Virchow-Klinikum.

Ihr Forschungsschwerpunkt am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, mit dem sie weiter eng zusammenarbeitet, waren die Etappen der gesunden Sprachentwicklung, an der Charité beschäftigt sie sich in Forschung und Lehre mit den Störungen dieser Entwicklung. „In unserer Forschungsgruppe widmen wir uns der genaueren Beschreibung von Störungsbildern mit dem Ziel, bessere Behandlungen dafür zu finden. Wir möchten deshalb in den nächsten Jahren Interventionsstudien zu bestimmten Störungsbildern starten.“ Im Forschungslabor wird zudem mit neurowissenschaftlichen Methoden gearbeitet, etwa mit dem EEG. „Wir können bereits sehr früh, auch bei Säuglingen und Kleinkindern, erfassen, wie das Gehirn Sprache verarbeitet“, erklärt Männel.

„Wenn Kinder mit dem Verdacht einer Sprachentwicklungsstörung in der Klinik vorgestellt werden, können wir heute auf ein standardisiertes und leitlinienbasiertes Untersuchungsparadigma zurückgreifen“, sagt Prof. Dr. med. Dirk Mürbe, Klinikdirektor und Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie. „Diese Untersuchungen umfassen individualisiert zusammengestellte subjektive und objektive diagnostische Verfahren zur Hör- und Sprachentwicklung, die regelhaft im interdisziplinären Team, unter anderem mit Logopäd:innen, Audiometrist:innen und Psycholog:innen erbracht werden.“

Abwarten und Beobachten

Viele Eltern sind besorgt, wenn ihr Kind bestimmte Meilensteine der Sprachentwicklung noch nicht erreicht hat, weil es zum Beispiel mit zwei Jahren noch nicht spricht oder weil es bestimmte Laute nicht korrekt artikuliert. Ab wann muss man sich Sorgen machen, und was ist dann zu tun? Kinderärzt:innen raten bei unter Dreijährigen, wenn sie keine weiteren Auffälligkeiten finden, in der Regel zum probaten Mittel des Abwartens und Beobachtens, „Watchful Waiting“, beruhigen die Eltern und sprechen von einer „Sprachentwicklungsverzögerung“.

Ohne dieses „Late Talking“ explizit zum Thema zu machen, es zum Defizit hochzustilisieren und dem Kind so womöglich seine Unbefangenheit beim Reden zu nehmen, können Eltern aber eine Menge tun. Die Psychologin und Logopädin Dörte Pollex und der HNO-Facharzt und Gesundheitsökonom Dr. med. Jonas Lüske hatten aus ihrer klinisch-praktischen Arbeit in der Klinik für Audiologie und Phoniatrie der Charité heraus die Idee zu einem Online-Portal, das dabei unterstützen soll. Dieses Portal setzen sie aktuell im Projekt „BerEIT für Sprache – Berliner Elterninformations- und Trainingstool“ digital um.

„Wir möchten die Eltern für den Spracherwerb ihrer Kinder sensibilisieren und sie in ihrer Selbstwirksamkeit stärken. Es geht darum, ihnen Fertigkeiten zu vermitteln, mit denen sie den Spracherwerb ihrer Kinder fördern können, während beide Spaß haben“, erläutert Claudia Männel, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. Es geht um einfache, leicht in den Alltag zu integrierende Handlungsweisen, um das Bilder-Anschauen-und-dabei-Reden, um Vorlesen, um Singen, Reimen und Klatschen. Kurze Filme zeigen Situationen, in denen Familien genau das voller Freude tun. Die multimedial gestaltete Plattform soll auch Informationen zu den Meilensteinen der Sprachentwicklung bieten und den Eltern zusätzlich einen Austausch mit anderen Familien und Anfragen an Expert:innen ermöglichen.

Das digitale Projekt kann darüber hinaus aber auch für pädiatrische Kolleg:innen eine Hilfe bei der Identifikation des tatsächlichen Bedarfs medizinischer Unterstützung bei einer Verzögerung der Sprachentwicklung sein, hofft Dr. med. Kathleen Chaoui, niedergelassene HNO-Ärztin in Charlottenburg und Mitglied des Vorstandes der Ärztekammer Berlin. „Damit kann die durch die Corona-Pandemie verstärkt entstandene fachärztliche Warteschlange in den Praxen für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und insbesondere für Phoniatrie/ Pädaudiologie zur Diagnostik einer Sprachentwicklungsverzögerung abgebaut werden.“

Das Spiel mit der Sprache

Dass in Berlin ein hoher Prozentsatz von Kindern vor der Einschulung mit „Sprachproblemen“ zu kämpfen hat, lässt sich nach Ansicht von Sprachentwicklungsexpertin Männel nicht ohne Weiteres mit der Tatsache erklären, dass hier besonders viele Kinder mehrsprachig aufwachsen. „Von einer Sprachentwicklungs-störung sprechen wir nur, wenn sich in beiden Sprachen Auffälligkeiten zeigen, die nicht mit anderen Einschränkungen, etwa auf der kognitiven Ebene, zu erklären sind.“ Bei mehrsprachigen Kindern habe man oft den Eindruck, dass sie in ihrer Sprachentwicklung hinterherhinken. „Wenn man zum Beispiel den Umfang ihres Wortschatzes in einer Sprache mit dem Wortschatz eines einsprachig aufwachsenden Kindes vergleicht, verfügen sie über einen geringeren Wortschatz. Allerdings gleicht sich dieser Unterschied oft durch zusätzliche Wörter in der zweiten Sprache aus. Zusätzlich holen mehrsprachige Kinder im Verlauf auch in der einen Sprache auf und haben dann den Vorteil, gleich zwei Sprachsysteme erworben zu haben“, gibt Männel zu bedenken.

Für Kinder sei es dabei aber vorteilhaft, wenn die beiden Sprachen systematisch auf zwei Personen oder Bereiche verteilt seien, wenn also die Eltern zu Hause jeweils ihre Muttersprache sprechen oder das Kind dort die eine und in der Schule die andere Sprache verwendet. „Studien zeigen inzwischen, dass mehrsprachig aufgewachsene Menschen die dadurch gewonnene Flexibilität kreativ nutzen und mehr Ausdrucksmöglichkeiten gewinnen. Sie wechseln zwischen den Sprachen, weil sie es können.“

Ob Kinder nun mit einer oder mehreren Mutter-, Vater- /oder Schulsprachen aufwachsen: Das Spiel mit der Sprache kann viel Spaß bringen. Das ist wichtig, denn ein anderes Kommunikationsmittel, über das Babys meist schon mit sechs Wochen verfügen, sollte beim Spracherwerb nicht in den Hintergrund treten: Lächeln und gemeinsames Lachen.

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