Leitungsposition im Tandem
In einer Umfrage des Deutschen Ärztinnenbundes e. V. gab mehr als die Hälfte der Befragten an, sich eine Leitungsposition im Tandem vorstellen zu können. Dr. med. Christin Corsepius und Dr. med. Adrian Falke sind ein solches Tandem. Seit dem 1. Januar 2024 teilen sie sich die chefärztliche Verantwortung in der Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Vivantes Humboldt-Klinikum in Berlin.
Corsepius war bereits leitende Oberärztin in der Abteilung, als Falke sie fragte, ob sie sich vorstellen könne, an seiner Seite die Leitung zu übernehmen. Falke ist heute 64 Jahre alt. Seit 2005 war er alleiniger Chefarzt der Abteilung. Ende 2023 wollte er seinen Stellenanteil aus privaten Gründen reduzieren. Corsepius ist nun diejenige mit dem Vollzeitvertrag. Falke hat eine 75-Prozent-Stelle und damit einen festen freien Tag in der Woche.
Die Entscheidung, die Führungsposition zu teilen, erklärt Falke so: „Als Chefarzt bin ich verpflichtet, meine Kolleg:innen zu fördern. Und wenn da eine kommt, die Fachlichkeit mitbringt und zusätzlich in der Abteilung fest verwurzelt ist und Lust auf Führung hat, dann muss man sie an Bord holen. Es wäre dumm, das nicht zu tun.“
Kommunikation ist das A und O
Für Corsepius und Falke überwiegen die Vorteile des Modells. Sie schätzen es, die Verantwortung teilen und sich gegenseitig bei komplexen Entscheidungen unterstützen zu können. Wer wofür zuständig ist, haben die beiden für das Team und die Kolleg:innen aus den anderen Fachbereichen klar abgesteckt. Ein wichtiges Fundament im Kollegialsystem sei natürlich die Kommunikation, betonen beide. „Sie ist das A und O, denn wir müssen nach außen als Einheit auftreten“, erklärt Falke.
Obwohl Corsepius als leitende Oberärztin bereits eine Position innehatte, die viel Fachwissen erfordert und mit einer hohen Verantwortung für Patient:innen und Mitarbeitende einhergeht, fasst sie ihre Erfahrungen an der Spitze so zusammen: „Der Sprung zur Chefärztin ist immer auch ein Sprung ins kalte Wasser“. Die Last der Verantwortung wiege noch mal schwerer, wenn man wirklich die Letztverantwortliche sei. Und da sei sie sehr froh, Falke an ihrer Seite zu haben. „Ich profitiere da sehr davon“, so das Fazit der 41-Jährigen.
Behutsamer Generationenwechsel durch Topsharing
Als jüngere Kollegin bringe Corsepius den nötigen frischen Wind mit, den jede Abteilung braucht, sagt Falke. Auch für die Klinikleitung und das Team hat das Tandem-Modell einen Vorteil: einen behutsamen Generationenwechsel. Kein Informationsverlust, kein Fremdeln mit einer neuen Leitung, man kennt und schätzt sich seit Jahren. Entscheidend bei dieser Art der Doppelspitze sei jedoch, „dass die erfahrenere Person tatsächlich bereit ist zurückzutreten“, gibt Corsepius zu bedenken. „Herr Falke lässt mir den Raum, mich zu entwickeln, und dafür bin ich ihm sehr dankbar“, sagt die Anästhesistin.
Topsharing wird oft als eine familienfreundlichere Variante von Führung dargestellt. Eine Art Patentrezept, das zusammenbringt, was als unvereinbar gilt: eine hohe Verantwortung für Patient:innen und Mitarbeitende, anspruchsvolle Inhalte und flexible Arbeitszeiten. Doch ist Topsharing wirklich die Antwort auf die Vereinbarkeitsfrage für Ärzt:innen, die eine Führungsposition anstreben?
Topsharing in der Diskussion
Jein: Sowohl Falke als auch Corsepius betonen, dass ein Topsharing immer noch eine komplexe Führungsposition ist, die in Teilzeit kaum zu leisten sei. „In meinem Vertrag stehen 40 Stunden, aber weil ich so stark eingebunden bin, sind es meist deutlich mehr“, sagt Corsepius. Ähnliches berichten auch andere Doppelspitzenpaare bei einer Diskussionsrunde der Ärztekammer Berlin in Kooperation mit dem Deutschen Ärzt:innenbund Anfang Dezember 2024.
Dr. med. Maren Godde und Dr. med. Laurenz Kopp Fernandes sind eines der teilnehmenden Tandems. Sie teilen sich eine Oberarztstelle in der Klinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie des Deutschen Herzzentrums der Charité (DHZC). Sie hatten sich initiativ als Duo auf eine ausgeschriebene Oberarztstelle beworben. Auch ihre Erfahrung zeigt: Topsharing ist vielleicht nicht die Vereinbarkeitslösung, nach der sich manche sehnen, aber es ermöglicht definitiv Freiheiten, die man in einer Führungsposition in der Medizin sonst selten hat.
Keine Angst vor der Verantwortungsdiffusion
Zum Beispiel die Möglichkeit, ein Telefonat oder einen Termin zu delegieren. Oder die Gewissheit, bei wichtigen privaten Anlässen anwesend sein zu können – und gleichzeitig die Abteilung in guten Händen zu wissen. Der Vorgesetzte von Godde und Kopp Fernandes ist Prof. Dr. med. Volkmar Falk, der ebenfalls anwesend war und das Thema Topsharing aus Arbeitgebersicht beleuchtet hat. Für ihn war die gemeinsame Bewerbung der beiden eine Premiere. Godde und Kopp Fernandes waren inhaltlich die besten Kandidat:innen. Dennoch hatte Falk Bedenken. Unter anderem fürchtete er eine „Verantwortungsdiffusion“.
„Denn eines muss klar sein“, so Falk, „man muss Verantwortung delegieren und mit den Konsequenzen leben können.“ Aber er ließ sich auf das Experiment ein und seine Bedenken erwiesen sich als unbegründet. Auf den Klinikalltag habe die Doppelbesetzung der Stelle am DHZC „gar keinen negativen Impact“. „Und immerhin“, so Falk, „kann Topsharing helfen, den Stress nicht mit nach Hause zu nehmen.“
Doppelspitzen bedeuten oft ein Umdenken
Das bedeutet, es gibt nur Gewinner:innen – sowohl bei den Arbeitnehmenden als auch bei den Arbeitgebenden? Nicht ganz. Durch die doppelten Sozialabgaben ist das Brutto für die Arbeitgebenden beim Topsharing-Konzept in der Regel höher. Oft wird dieses Problem so gelöst, dass die leitende Oberarztstelle eingespart wird und von den beiden Chef:innen gemeinsam ausgefüllt wird. Doch selbst wenn die Finanzen geklärt sind, verlangt das Tandem-Modell von den Arbeitgebenden eine gewisse Neuorganisation, insbesondere im medizinischen Bereich.
Da es bisher keine einheitliche Struktur für Topsharing-Modelle in der Krankenversorgung gibt, müssen etliche Fragen sehr detailliert geklärt und individuelle Vereinbarungen ausgearbeitet werden. Zum Beispiel die Frage nach der Weiterbildungsbefugnis, die bei beiden Kandidat:innen nicht immer identisch ist. Oder die Abrechnung von Privatpatient:innen. Diese kann nur über eine Chefärztin oder einen Chefarzt laufen. Und nicht zuletzt die Fragen der ärztlichen Haftung. All das ist nicht unüberwindbar, kann aber die Verantwortlichen bei der Umsetzung des Modells ziemlich mürbe machen.
Diskussionsrunde Topsharing
Initiativbewerbungen können sich lohnen, müssen aber gut vorbereitet sein
Bisher werden nur wenige Führungspositionen direkt als Doppelspitze ausgeschrieben. Es lohnt sich jedoch, sich initiativ zu bewerben. Das betonten alle Teilnehmenden der Diskussionsrunde in der Ärztekammer Berlin. Im gemeinsamen Gespräch kristallisierten sich einige Erfolgsaspekte heraus – für die Bewerbung und für die Zusammenarbeit.
Für das Gelingen des Topsharings ist ein harmonisches Miteinander des Duos sowie ein grundsätzliches Einverständnis die Voraussetzung. Klinikleitung und Vorstand müssen zumindest offen für das Experiment sein. „Gegen die Führung zu arbeiten funktioniert nicht“, merkte aus dem Plenum beispielsweise Dr. Christine Kurmeyer, Zentrale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Charité – Universitätsmedizin Berlin an.
Bewerber:innen für eine Doppelspitze sollten die Vorteile ihres individuellen Modells für Mitarbeitende und Unternehmen herausarbeiten und dabei ein Konzept vorlegen, das gängige Fragen vorwegnimmt: Wie könnten Arbeitgebende die beiden Spitzengehälter finanzieren? Wie regelt das Tandem die Präsenz, Zuständigkeit und Erreichbarkeit? Aus den Wortbeiträgen der Anwesenden wurde deutlich, dass dieser Teil kaum zu detailliert ausfallen kann. Selbst so banale Dinge wie der Inhalt der E-Mail-Signatur können Fragen aufwerfen. Maren Godde vom DHZC betonte, dass vieles zwar kritische Nachfragen auslöse, sich in der Realität aber schnell pragmatische Lösungen fänden.
„Schlimmstenfalls zerlegt sich das Tandem“
Wenn eine gut vorbereitete Bewerbung dann auf dem Tisch liegt, fehlt laut Ina Colle eigentlich nur noch ein bisschen Mut. Colle leitet die neue Stabsstelle „Frauenförderung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ beim Klinikkonzern Vivantes. Sie plädiert dafür, es trotz aller Hürden und Bedenken einfach auszuprobieren: „Schlimmstenfalls zerlegt sich das Tandem“, ist ihre Haltung. Denn was bei der ganzen Abwägung der Vor- und Nachteile des Modells oft ein bisschen vergessen wird: Einsame Spitzen können genauso scheitern. Topsharing ist vielleicht nicht ganz das Vereinbarkeitswunder, als das es gerne gefeiert wird. Dennoch kann es gerade in Zeiten des großen Nachwuchsmangels mehr talentierte Bewerber:innen anlocken. Und von der doppelten Erfahrung profitieren nicht zuletzt auch die Patient:innen.